Weißer SchlafLieder für Sopran und Großes Orchester

In dem Werk werden Texte unterschiedlicher Autoren zum Thema Nacht nebeneinander gestellt.

Zusammengehalten wird die durch Stilpluralismus (romantisches Gedicht in klassischer Sonett-Form versus expressionistischen Reihungsstil mit syntaktischer wie semantischer scheinbarer Zusammenhangslosigkeit) gekennzeichnete Textauswahl nicht nur durch das Sujet, sondern vielmehr durch ein faszinierend weitverzweigtes literarisches Motivgeflecht. Hierzu gehören z. B. das Motiv des Wassers, verschiedene Tiere, zahlreiche Farben, Atem bzw. Odem etc. Der hypallage-artige Werktitel Weißer Schlaf entstammt dem Trakl-Gedicht Der Schlaf.

Abstraktes Bild von Gerhard Richter. Öl auf Leinwand. Im Hintergrund abwärts fließende Strukturen in Blau- und Violetttönen, die an einen Wasserfall erinnern. Der Vordergrund ist verschwommen und erinnert an Wasser.
Gerhard Richter, Abstraktes Bild

Als wichtige Inspirationsquellen haben zwei Gemälde des international bekannten Künstlers Gerhard Richter den Kompositionsvorgang begleitet. Der Künstler hat die Kunstwerke, die starke Assoziationen an Sujet und Werktitel Weißer Schlaf geweckt haben, dankenswerter Weise zur Verfügung gestellt.

Die Abfolge der Gedichte stellt eine Entwicklung dar:

Die Vertonung von Um Mitternacht folgt dem doppelstrophigen Formschema ab–ab des Mörike-Gedichts. Die a-Teile sind als vielstimmige und vollchromatische Kanons in äußerst gedehntem Tempo vertont. Tonale Assoziationen werden hin zum Ende dieser Abschnitte, die durch die Kirchenglocke markiert sind, geweckt – der gesamte Streicherapparat wandelt sich hier zu einer gewaltigen Uhr. Zu zwölf Streichergruppen gesellen sich vier Solo-Celli, die exklusiv die Linien der Solistin begleiten und sich deutlich vom übrigen Streicherapparat absetzen. Die b-Abschnitte sind für Sopran, drei Klarinetten und Harfe vertont und von quirligem Charakter.

Der Einschlaf (gesprochen)

Kurze expressionistische Gesten prägen das Nachtlied. Die Komplexität dieses Trakl’schen Spätwerks nachzeichnend, besteht das Lied aus zahlreichen stark kontrastierenden Abschnitten. Schließlich verklingt das Stück mit einem letzten Mehrfach-Pedalglissando der Harfe im Nichts.

In dem Zyklus Ultraviolett, dem das Gedicht Vision entnommen ist, wendet sich der Romantiker Dauthendey dem Expressionismus zu. Der hier vollzogene Stilbruch ist – im direkten Vergleich mit vorausgegangenen Werken – geradezu radikal.

Die Vertonung von Vision beginnt mit einem teils grafisch notierten Vorspiel der Streicher. Unbegleitet hebt die Sopranistin an. Der sich anschließende Großabschnitt wird mit Obertonfiguren durch die Holzbläser gestaltet, deren Töne sich im Blech widerspiegeln. Das Stück endet mit einem bei aller Krassheit des Textes („In das Blau, In das Silber Ragt der gelbaschige Kopf des Ertrunkenen. Und der Schwan zieht reglos vorbei“) ‚hochromantischen‘ Duett zwischen Sopran und Englischhorn.

Die Nachtblume (gesprochen)

Das Lied Der Schlaf wurde als polyphones Stück für tiefe Holzbläser, volles Blech, Schlagzeug und Kontrabass solo konzipiert. Traumbilder ziehen in rauschhaftem1 Tempo vorbei. Die Sopranistin – wie ein zusätzliches Instrument behandelt – wirft nur gelegentlich Subjekte der Fuge in das Geschehen ein. Einige Male geschieht textbedingt ein deutlicher Einschnitt, bevor abschließend sämtliche Blechbläser – die absteigende Chromatik des hinteren Themenabschnitts ausnutzend – bei größtmöglicher Dynamik wortausdeutend („Über stürzenden Städten von Stahl.“) und durch die volle Schlagzeuggruppe unterstützt in die Tiefe rauschen.

Der Beginn des Sonnetts [sic] greift Teile des dritten Satzes (Nachtlied) auf, bevor mit der Strophe „Und off’ne Gräber ihre Geister senden…“ zahlreiche Schreckens-Motive der vorangegangenen Lieder kombiniert werden. Vier Hörner, wenig unterstützt durch schweres Blech, kündigen den Tag an. Steigerung zum Tutti bei lauter Dynamik, dann marschartiger Abschnitt, der sich schnell auf eine Klarinetten-Harfe-Sopran-Besetzung – bekannt aus dem ersten Lied – reduziert, bevor das Lied schließlich mit einem diffus-fragilen Tutti-Klang ausatmet.

Das Morgenlied (gesprochen)

Ein weiteres abstraktes Bild von Gerhard Richter. Mit Öl sind auf Leinwand verschiedene Gelbtöne gemalt.
Gerhard Richter, Abstraktes Bild

Libretto

1) Um Mitternacht

Eduard Mörike (1804-1875)


Gelassen stieg die Nacht ans Land,
Lehnt träumend an der Berge Wand,
Ihr Auge sieht die goldne Waage nun
Der Zeit in gleichen Schalen stille ruhn;

          Und kecker rauschen die Quellen hervor,
          Sie singen der Mutter, der Nacht, ins Ohr
          Vom Tage,
          Vom heute gewesenen Tage.

Das uralt alte Schlummerlied,
Sie achtet’s nicht, sie ist es müd;
Ihr klingt des Himmels Bläue süßer noch,
Der flücht’gen Stunden gleichgeschwungnes Joch.

          Doch immer behalten die Quellen das Wort,
          Es singen die Wasser im Schlafe noch fort
          Vom Tage,
          Vom heute gewesenen Tage.

2) Der Einschlaf

Markus Schönewolf


gesprochen (Sprecher):

Nacht nun ist


Schattenschleier über Ätherblau
Angustschleier über Seinsleichtigkeit
Unterbewusstes umschleiert das Gedenk

Schlafesschleier über mattes Geäug
Traumesschleier verwebt Wirklichkeitliches


Quellender Rauch
zersetzt geronnene Erinnerung

  1. Mai 2007

3) Nachtlied

Georg Trakl (1887-1914)


Des Unbewegten Odem. Ein Tiergesicht
Erstarrt vor Bläue, ihrer Heiligkeit.
Gewaltig ist das Schweigen im Stein;

Die Maske eines nächtlichen Vogels. Sanfter Dreiklang
Verklingt in einem. Elai! dein Antlitz
Beugt sich sprachlos über bläuliche Wasser.

O! ihr stillen Spiegel der Wahrheit.
An des Einsamen elfenbeinerner Schläfe
Erscheint der Abglanz gefallener Engel.

4) Vision

Max Dauthendey (1867-1918)


! Stöhnendes Graugelb.

Aber das Stöhnen nur im Blick.

Lautlos sonst und mit unterdrücktem Atem.

! Und ein Blau,

Ein Blau, aus dem ganz zarte silberne Glockenspiele singen,

Und ein Duft geht von Sonnenwärme und Mandelblüten.

! Silber darüber.

Duftleeres, schneekühles Silber.

Aber aus allem hebt sich steif

Und hebt sich fahl, wie Gewitterlicht,

Das stumme Graugelb.

Und hebt sich lautlos stöhnend wie Asche,

Mit welkem darbenden Blick.

! Ein Gesicht ? die starre Maske eines Toten ?
Ein Kopf ? aus dem Blau ? aus dem blauen, glatten

Wasser.

Braunviolette Strähne ? Haare in die Stirn,
Das eine Auge schief, spitze Wangenknochen,
Und trieft von den Schläfen das braunviolette Haar
Über das öde aschige Gelb.

Und darüber: über das blaue Wasser
Silbern ein Schwan.
Silbern die Reflexe von Wolken,
Duftleer, schneekühl.

In das Blau,

In das Silber

Ragt der gelbaschige Kopf des Ertrunkenen.

Und der Schwan zieht reglos vorbei,

Reglos die Reflexe der Wolken.

  1. Die Nachtblume

Joseph von Eichendorff (1788-1857)

gesprochen (Sopranistin):


Nacht ist wie ein stilles Meer,
Lust und Leid und Liebesklagen
kommen so verworren her
in dem linden Wellenschlagen.

Wünsche wie die Wolken sind,
schiffen durch die stillen Räume,
wer erkennt im lauen Wind,
ob’s Gedanken oder Träume? –

Schließ’ ich nun auch Herz und Mund,
die so gern den Sternen klagen:
leise doch im Herzensgrund
bleibt das linde Wellenschlagen.

6) Der Schlaf [2. Fassung]

Georg Trakl


Verflucht ihr dunklen Gifte,
Weißer Schlaf!
Dieser höchst seltsame Garten
Dämmernder Bäume
Erfüllt von Schlangen, Nachtfaltern,
Spinnen, Fledermäusen.
Fremdling! Dein verlorner Schatten
Im Abendrot,
Ein finsterer Korsar
Im salzigen Meer der Trübsal.
Aufflattern weiße Vögel am Nachtsaum
Über stürzenden Städten
Von Stahl.

7) Sonnet.

Arthur Schopenhauer (1788-1860)

(Weimar 1808.)


Die lange Winternacht will nimmer enden;
Als käm’ sie nimmermehr, die Sonne weilet;
Der Sturm mit Eulen um die Wette heulet;
Die Waffen klirren, an den morschen Wänden.

Und off’ne Gräber ihre Geister senden:
Sie wollen, um mich her im Kreis vertheilet,
Die Seele schrecken, daß sie nimmer heilet; –
Doch will ich nicht auf sie die Blicke wenden.

Den Tag, den Tag, ich will ihn laut verkünden!
Nacht und Gespenster werden vor ihm fliehen:
Gemeldet ist er schon vom Morgensterne.

Bald wird es licht, auch in den tiefsten Gründen:
Die Welt wird Glanz und Farbe überziehen,
Ein tiefes Blau die unbegränzte Ferne.

8) Das Morgenlied

Georg Trakl

gesprochen (ad libitum [Sprecher]):


Nun schreite herab, titanischer Bursche,
Und wecke die vielgeliebte Schlummernde dir!
Schreite herab, und umgürte
Mit zärtlichten Blüten das träumende Haupt.
Entzünde den bangenden Himmel mit lodernder Fackel,
Daß die erblassenden Sterne tanzend ertönen
Und die fliegenden Schleier der Nacht
Aufflammend vergehen,
Daß die zyklopischen Wolken zerstieben,
In denen der Winter, der Erde entfliehend,
Noch heulend droht mit eisigen Schauern,
Und die himmlischen Fernen sich auftun in leuchtender Reinheit.
Und steigst dann, Herrlicher du, mit fliegenden Locken
Zur Erde herab, empfängt sie mit seligem Schweigen
Den brünstigen Freier, und in tiefen Schauern erbebend
Von deiner so wilden, sturmrasenden Umarmung,
Öffnet sie dir ihren heiligen Schoß.
Und es erfaßt die Trunkene süßeste Ahnung,
Wenn Blütenglühender du das keimende Leben
Ihr weckest, des hohe Vergangenheit
Höherer Zukunft sich zudrängt,
Das dir gleich ist, wie du dir selber gleichst,
Und deinem Willen ergeben, stets Bewegter,
Daß an ihr ein ewig Rätselvolles
In hoher Schönheit sich wieder künftig erneuert.


  1. „Rauschhaft“ ist hier wörtlich zu nehmen; denn offensichtlich bezieht Trakl sich bei den Begriffen „dunklen Gifte“ und „weißer Schlaf“ auf Rauschmittel, mit denen er nach Schulabbruch bereits früh in Berührung kam. Trakl war ab 1905 Praktikant in der Salzburger Apotheke Zum weißen Engel, was ihm die Beschaffung von Drogen erleichterte, und starb 1914 in Folge einer Überdosis Kokain, wobei Suizid nicht ausgeschlossen werden kann.↩︎