Erstarrte MusikDie Baukunst der Gotik als raumgewordene Lichttheologie und musikalisches Ereignis

Zwischen Musik und Raum besteht ein enges Beziehungsgeflecht. Immer geschieht ein musikalisches Ereignis – wenngleich Musik die Dimension der Zeit gestaltet – auch im Raum, und ja: Ein mit einem elastischen Medium – Luft in der Regel – gefüllter Raum ermöglicht erst den Transport von Klang. Dabei sind Musikdarbietungen von jeher an bestimmte Räume geknüpft oder diesen vorbehalten – Kultstätten zum Beispiel, seien dies natürliche Höhlen oder – Jahrtausende später – von Menschenhand gebaute Gotteshäuser. Hier beeinflussten und beeinflussen sich Musik und – sofern nicht natürlichen Ursprungs – Architektur wechselseitig. Komponisten und Musikinterpreten passen ihre Kunst dem jeweiligen Raum bzw. dessen Akustik an, so besonders augenfällig bei der Venezianischen Schule, doch gleichwohl bereits, und unserem Gegenstand sehr nahe, in der Notre-Dame-Schule. Gleichwohl beeinflussen Klang und Musik die Architektur – vom antiken Amphitheater bis zu von Akustikern bis ins Klangdetail geplanten Kammermusiksälen und Konzerthallen.

Diese Ebene stellt die funktionelle Beziehung von Raum, Architektur und Musik dar. Darüberhinaus besteht eine ästhetisch-semantisch-semiotische, der aufgrund der Abstraktheit und Körperlosigkeit von Musik nahezu eine metaphysische Qualität anhaftet, und die sich unmittelbar aus den musikalischen Grundlagen ableiten lasst – Tönen, deren Obertonreihen und den daraus ableitbaren Intervallen und schließlich Akkorden.

Die musikalischen Intervalle beruhen auf physikalischen Gesetzmäßigkeiten; reine Intervalle besitzen mathematisch einfache Teilungsverhältnisse, die auf räumliche Proportionen gespiegelt werden können (siehe Der Wolf in der Musik). Schönheit im Allgemeinen und musikalische Schönheit im Besonderen zeichnen sich (auch) durch Symmetrie und Proportion aus. Diese in Stein gehauene Ebene im Beziehungsgeflecht von Architektur und Musik – erstarrte Musik also – ist nirgends augenfälliger als in der Baukunst gotischer Kathedralen.

Baukunst der Gotik

Der Bau- und Kunststil der mittelalterlichen Gotik erfasste – von Frankreich ausgehend – schnell ganz Europa. War der Begriff Gotik zunächst negativ besetzt (Giorgio Vasari prägte diesen Begriff in Abgrenzung zu dem Goldenen Zeitalter der Antike; das italienische gotico bedeutet hier etwa „fremdartig“ und bezieht sich auf den besonders von Italienern als barisch empfundenen Stamm der Goten), gilt Kennern und Liebhabern großer Architektur die Gotik heute als eine oder die zentrale Epoche besonders der sakralen Baukunst.

Die Gotik ist eine Epoche der Superlative. Für etwa 80 gewaltige Kathedralen – und dies nur in Frankreich – wurden ‚ganze Gebirge‘ bewegt. Die Gotteshäuser erreichen nie gekannte Ausmaße (der von Stein und Glas umfasste Raum mancher Kathedralen wird auf etwa 200.000 Kubikmeter geschätzt), ein wahrer Boom und Wettstreit des Kathedralbaus zwischen Städten und Bistümern erfasste das mittelalterliche Europa.

Waren im frühesten Mittelalter ländlich gelegene Abteien Zentren von Religion, Wissenschaft und in der Folge auch Baukunst, setzt bald eine Verlagerung in die Städte ein. Größere Kirchengebäude waren vonnöten, größere Menschenmassen mussten diese fassen. Auch der Ausdruck klerikaler und politischer Macht war mit dem Kathedralenbau verbunden.

Viele Stilmerkmale der Gotik – dazu unten – waren bereits in der Antike und dem Frühmittelalter, etwa ab dem späten 11. und frühen 12. Jahrhundert, vorgeprägt; doch gilt der Chor der Abteikirche von St. Denis (das Gotteshaus wurden erst 1966 in den Stand einer Kathedrale erhoben) als erster wahrhaft gotischer Bau. Abt Suger (1081–1151) zeichnet sich für die Planungen maßgeblich verantwortlich und gilt als Begründer gotischen Bauens. Alle wichtigen vorgeprägten Merkmale vereinen sich im Chor der Kirche erstmals zu einem wahrhaft neuen Stil.

Als einzig erhaltenes Bauhüttenbuch sei das 33 Seiten umfassende Skizzenbuch des Villard de Honnecourt (* vor 1230, † nach 1235) erwähnt. Da Baumeister und -hütten ihre Geheimnisse wahrten – das Wissen um die Baukunst durfte nur innerhalb der Steinmetzbruderschaft weitergegeben werden – und Geheimnisse der Baukunst nur mündlich tradiert wurden, ist das Skizzenbuch das wichtigste – neben Grund- und Aufrisszeichnungen – schriftliche Zeugnis zur Architektur der Hochgotik.

Stilmerkmale gotischer Baukunst

Spitzbogen

Der Bogen ermöglicht das Überbrücken von größeren Aussparungen im Mauerwerk. Wie effizient Bögen wirken, wird zunächst beim Vergleich mit dem einfachen Balken oder dem Architrav deutlich. Hier wirken vertikale Kräfte gleichmäßig auf die Balkenoberseite ein. Die Unterseite wird dabei gedehnt. Werden die auf den Balken einwirkenden Kräfte zu groß, bricht dieser in der Mitte entzwei, dies besonders schnell bei Materialien, die keine hohen Zugspannungen aufnehmen können, z. B. Stein. Somit können mit der Balkenkonstruktion nur geringe Breiten überspannt werden. Gleiches gilt auch für verschiedene ‚unechte‘ Bogentypen.

Echte Bögen leiten vertikale Kräfte auch seitlich ab. Der Bogen ‚übergibt‘ die auf ihn einwirkenden Kräfte auf die ihn tragenden Stützsteine sowie das umgebende Mauerwerk. Eine besondere Rolle kommt hierbei dem Kämpfer zu, auf dem der Bogen aufliegt.

Römisches Nordtor, Römisch-Germanisches Museum, Köln
Römisches Nordtor, Römisch-Germanisches Museum, Köln, Wikipedia/Hannibal21

Bei kreisförmigen Bögen erfolgt die Kräfteableitung stark seitlich, dies umso mehr, je flacher der Bogen ist. Das Optimum, das heißt eine größtmögliche Verringerung der Schubkräfte zur Seite hin, erreicht der Halbkreisbogen bzw. Rundbogen, den man auch römischen Bogen nennen könnte. Er unter anderem kennzeichnet die romanische Epoche des Kirchenbaus. Der Bogen beschreibt einen vollständigen Halbkreis von 180°, die Scheitelhöhe dieses Bogentyps entspricht exakt der halben Spannweite. Dennoch wirken hier Kräfte etwa im Winkel von 45° zur Seite hin. Daher muss auch der Halbkreisbogen von massivem Mauerwerk umgeben sein, soll er nicht nur sich selbst, sondern eine aufliegende Last tragen. Kreisförmige Bögen, die keinen vollständigen Halbkreis beschreiben, sind Segmentbögen. Die flache Bauweise ist – trotz nachteiliger großer seitlicher Schubkräfte – für den Brückenbau sehr geeignet, da die Bogenkonstruktion im Verhältnis zu dessen Breite weniger hoch ist. Vollständig flache Bögen sind scheitrechte Bögen. Sie entsprechen in etwa einem Balken, der allerdings aus verschiedenen Bogensegmenten aufgebaut ist.

Der Spitzbogen, wie er kennzeichnend für die Epoche der Gotik ist, hingegen leitet die Kräfte in einem spitzeren Winkel nach unten ab. Er ist aus zwei Kreisen konstruiert, wobei sich zwei Kreissegmente in der Bogenspitze treffen. Die seitlichen Schubkräfte sind hier nicht aufgehoben, aber so stark reduziert, dass den Bogen umgebendes Mauerwerk stark reduziert oder gar durch das Strebewerk (siehe unten) ersetzt werden kann. Die Last ruht weitgehend auf den den Bogen tragenden Pfeilern oder Säulen. Wiederum können mit dem Spitzbogen größere Distanzen als mit dem Rundbogen überbrückt werden.

Kreuzgerippengewölbe

Ein Gewölbe ist – dieses einfache Bild sei einem Architekturlaien erlaubt – ein in die Tiefe des Raums erweiterter Bogen. Dessen einfachste Form ist das Tonnengewölbe, das vom Rundbogen abgeleitet ist. Wie beim Rundbogen werden Kräfte seitlich abgeleitet. Bei der Flachdecke – gleichsam ein in die Raumtiefe verlängerter Balken – wirken nur senkrechte Kräfte, nur kurze Distanzen können überspannt werden, sonst brechen Widerlager und mit ihnen der gesamte Bau ein.

Die zur Seite gerichteten Schubkräfte des Tonnengewölbes müssen von einem dicken Mauerwerk, das gleichmäßig belastet wird, aufgefangen werden; dennoch können deutlich größere Distanzen als bei der Flachdecke überspannt werden.

Die überspannbare Distanz erhöht sich weiter, legt man den Spitzbogen der Gewölbekonstruktion zugrunde. Bei der Spitztonne werden die Kräfte weniger seitlich, dafür mehr zum Boden hin abgeleitet.

Während im Falle der Flachdecke die vertikalen Kräfte in der Deckenmitte wirken (die Deckenplatte ist tragend), wirken sie beim Tonnengewölbe außen auf die tragende Wand – und dies so senkrecht wie möglich.

Die Spitztonne jedoch stellt noch nicht das für die Gotik typische Kreuzgerippengewölbe dar, obwohl es vom gotischen Spitzbogen ableitbar ist. Vielmehr ist das Kreuzgerippengewölbe ein segmentiertes Gewölbe, dessen jedes Segment aus vier selbsttragenden Kreuzrippen zusammengesetzt ist. Die Rippen kreuzen sich dabei wie die Diagonalen, die über ein Rechteck – in der Vierung über ein Quadrat, sofern hier keine Kuppel gebaut ist – gezogen werden, und treffen sich in einem gemeinsamen Schlussstein. Dabei wird ein jedes Kreuzgerippengewölbesegment auf Spitzbögen aufgelegt (so in der Gotik; auch die Auflage auf Rundbögen ist möglich). Die Seitenwände eines Kirchenschiffs sind aus mehreren Bögen aufgebaut – die Säulen der unteren Etage des Mittelschiffs tragen je einen Bogen – und jeder dieser Bögen von einem Gewölbesegment überspannt. Ferner kann der Querschnitt eines Kirchenschiffs als in den Raum verlängerter Bogen aufgefasst werden. Schließlich können die vier Dreiecke, die ein Segment der Gewölbedecke bilden, stilisiert wiederum auf den Spitzbogen zurückgeführt werden.

Kreuzgerippengewölbe der Kathedrale von Chartres
Kreuzgerippengewölbe der Kathedrale von Chartres

Der maßgebliche Vorteil des Kreuzgerippengewölbes ist, dass die selbsttragenden Rippen die Schub- und Druckkräfte selber ableiten und auf die tragenden Säulen überführen. Dies heißt, dass die Seitenwände eines Kirchenschiffs nicht (zumindest nicht gleichmäßig) durch die Deckenkonstruktion belastet werden. Zudem sind die Seitenwände selber aus Spitzbögen aufgebaut. Folglich werden sämtliche Kräfte auf die tragenden Säulen geleitet – quer die Kräfte der Deckenkonstruktion, längs jene der Wand selber. Wände können dünn gebaut oder ausgespart und durch Fensterflächen oder Säulenreihen ersetzt werden. Das Prinzip der durchbrochenen Wand wird möglich.

Zwar ist das Kreuzgerippengewölbe keine Erfindung mittelalterlicher Architekten – nachweisbar ist es seit der Antike, in aramenischen Kirchen des 10. bis 13. Jahrhunderts, manchen frühen Moscheen –; doch tritt das für die Gotik typische vierteilige Kreuzgerippengewölbe erstmals in der Kathedrale von Chartres auf. Davor war es in sechs Teile gegliedert. Der erwähnte Chor von St. Denis weist das bekannte fünfrippige Gewölbe auf.

Strebewerk

Wie gesehen bedingen Kreuzgerippengewölbe und die durch Spitzbögen segmentierten Seitenwände, dass der ganze Bau auf den zwischen den Seitenwandsegmenten platzierten Säulen lastet. Die von den Wandsegmenten ausgehenden seitwärts gerichteten Kräfte werden von der Wand selber aufgefangen, die jeweils äußersten Segmente werden hierbei besonders belastet und unter anderem durch die gigantischen Westportale gestützt. Die seitlichen Schubkräfte, die vom Gewölbe ausgehen sind problematischer, drücken diese die Seitenwände – wir betrachten die Kirche im Querschnitt vom Westportal in Richtung Chor – an den tragenden Stellen, also den Säulen zwischen den Fenstern, doch nach außen. Ohne den Seitenschub aufnehmende und in das Fundament ableitende Bauelemente würde die Kirche einstürzen – so natürlich auch geschehen –, so wie ein Bogen, dessen umgebende Mauer nicht dickwandig genug ist. Die Kraftableitung übernimmt das Strebewerk (etwa ab 1160 und 1170, außen erstmals sichtbar in der Kathedrale Notre-Dame de Paris), augenfälligstes Merkmal gotischer Architektur, betrachten wir die Kathedralen von außen.

Das Strebewerk besteht aus Strebepfeilern und Strebebögen, von denen letztere nicht vollständig rund sein müssen, da sie an die tragenden Teile der Seitenwände angesetzt werden. Sie entsprechen in etwa einhüftigen Korbbögen. Dies sind Segmentbögen, deren Krümmungsradius sich im Bogenverlauf ändert (Grundlage ist also nicht der Kreis) und deren Kämpfersteine in unterschiedlicher Höhe liegen. Die an der Kirchenwand angesetzten Kämpfer kommen höher zu liegen als die äußeren, auf die Strebepfeiler aufgesetzten Kämpfer. Da die Seitwärtskräfte nur die tragenden Säulen der Seitenwände belasten, müssen Strebebögen und -pfeiler nur an diesen Stellen von außen angebracht werden, so dass der Außenansicht gotischer Kathedralen gewissermaßen eine Anhaftung des Skeletthaften nicht abzusprechen ist.

Der Himmel auf Erden

Gotische Kathedralen sind Gotteshäuser der Superlative. Während Kirchen römischen Stils eher klein und gedrungen wirken, streben gotische Kirchen geradewegs dem Himmel zu. Die absolute Höhe der Schiffe, die Gewölbe, der terassenartige Aufbau der Wände unterstützen dies. Die segmentierte Decke hat einen Duktus, der die Länge der Schiffe betont. Betritt man das Gotteshaus durch das Westportal, wandert der Blick unweigerlich in Richtung Chor.

Erst die Kombination der für die Gotik stilbildenden Baumerkmale ermöglichte gigantische, von Licht durchflutete umbaute Räume. Die tiefliegende Flachdecke wird durch ein in großer Höhe, dem Himmelszelt gleich aufgespanntes Gewölbe ersetzt, die vormals wuchtigen Mauern durch Fensterflächen und Maßwerk – manche Kathedralen besitzen um die 10.000 Quadratmeter Fensterfläche –, alles ist licht und leicht und schwebend, die Erdenschwere überwunden. Wo vormals aus statischen Gründen Emporen notwendig und große Fenster in der Folge unmöglich waren, sind nun Triforium und Obergaden, auch Lichtgaden genannt, der das Obergeschoss des meist dreigeschossigen Wandaufrisses darstellt, mit tief herabgezogenen Fenstern zu finden. (Die Möglichkeit, Fensterraum auszusparen beschränkte sich vormals auf den kleinen Raum zwischen Gewölbeansatz und Gewölbekappe.)

Man stelle sich den Menschen des Mittelalters vor. Gewohnt ist er kleine Häuser mit höchstens zwei Geschossen. Kleinste Aussparung in den Wänden dienen als Fenster, die Aussparung meist unverglast, nur Schlagläden schützen vor Wind und Wetter. Dieser Mensch des Mittelalters nun sieht Gotteshäuser, die dem Gesetz, das die Physik aufgestellt hat, zu trotzen scheinen. Die Ausmaße eines solchen Baus überschreiten bei Weitem das Menschenmögliche, der Innenraum ist lichtdurchflutet, Ahnung der Schau des wahren Lichts – lumen de lumine –, nie gesehene Farben – so das heute weltberühmte Chartres-Blau, das speziell für den Bau der Kathedrale von Chartres entwickelt wurde, der Glanz von Edelsteinen –, Schmuck, Altäre, Figuren, heilige Gegenstände, von denen manche Reliquien fassen, Paramente, Musik, Akustik und natürlich die Liturgie selbst stürzen die Menschen in Verzückung.

Das Äußere der Kirche ist ebenso imposant: Das Gebäude betritt man durch das gigantische, römischen Stadttoren gleiche Westportal, auf das die Haupttürme der Kirche gesetzt sind. Der heute oftmals dunkle Stein war hell und filigran behauen (früher grob behauen, dann geschlämmt oder verputzt und bestenfalls bemalt), Steinmetze haben die gesamte Kirche mit Fialen und Figuren – Heilige, Kleriker, Stifter, aber auch Dämonen und Tiere – geschmückt. Hinzu kommt, dass die Kirchen außen wie innen farbig bemalt, teilweise gar in Gold eingefasst waren, ein Umstand, der heute nahezu vergessen scheint (wie auch die Farbigkeit römischer Bauten und Skulpturen). Und im Erdreich: Hier wiederholt sich die gigantische Masse an Fels als Fundament.

Die Architekten und Bauleute des Mittelalters wollten den Himmel auf Erden abbilden. Hier müssen wir uns vor Augen halten, dass das Bild des Himmels ein anderes war, als wir es heute – geprägt durch die manierierte Wolkenputzigkeit des Barocks – haben. Das Himmelsbild des Mittelalters war das des Himmlischen Jerusalems, wie es in der Offenbarung des Johannes beschrieben ist:

2Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann. […] 10 Und er [der Engel] führte mich hin im Geist auf einen großen und hohen Berg und zeigte mir die heilige Stadt Jerusalem herniederkommen aus dem Himmel von Gott, 11 die hatte die Herrlichkeit Gottes; ihr Licht war gleich dem alleredelsten Stein, einem Jaspis, klar wie Kristall; 12 sie hatte eine große und hohe Mauer und hatte zwölf Tore und auf den Toren zwölf Engel und Namen darauf geschrieben, nämlich die Namen der zwölf Stämme der Israeliten: 13 von Osten drei Tore, von Norden drei Tore, von Süden drei Tore, von Westen drei Tore. 14 Und die Mauer der Stadt hatte zwölf Grundsteine und auf ihnen die zwölf Namen der zwölf Apostel des Lammes. 15 Und der mit mir redete, hatte einen Messstab, ein goldenes Rohr, um die Stadt zu messen und ihre Tore und ihre Mauer. 16 Und die Stadt ist viereckig angelegt und ihre Länge ist so groß wie die Breite. Und er maß die Stadt mit dem Rohr: zwölftausend Stadien. Die Länge und die Breite und die Höhe der Stadt sind gleich. 17 Und er maß ihre Mauer: hundertvierundvierzig Ellen nach Menschenmaß, das der Engel gebrauchte. 18 Und ihr Mauerwerk war aus Jaspis und die Stadt aus reinem Gold, gleich reinem Glas. 19 Und die Grundsteine der Mauer um die Stadt waren geschmückt mit allerlei Edelsteinen. Der erste Grundstein war ein Jaspis, der zweite ein Saphir, der dritte ein Chalzedon, der vierte ein Smaragd, 20 der fünfte ein Sardonyx, der sechste ein Sarder, der siebente ein Chrysolith, der achte ein Beryll, der neunte ein Topas, der zehnte ein Chrysopras, der elfte ein Hyazinth, der zwölfte ein Amethyst.21 Und die zwölf Tore waren zwölf Perlen, ein jedes Tor war aus einer einzigen Perle, und der Marktplatz der Stadt war aus reinem Gold wie durchscheinendes Glas. 22 Und ich sah keinen Tempel darin; denn der Herr, der allmächtige Gott, ist ihr Tempel, er und das Lamm. 23 Und die Stadt bedarf keiner Sonne noch des Mondes, dass sie ihr scheinen; denn die Herrlichkeit Gottes erleuchtet sie, und ihre Leuchte ist das Lamm. 24 Und die Völker werden wandeln in ihrem Licht; und die Könige auf Erden werden ihre Herrlichkeit in sie bringen. 25 Und ihre Tore werden nicht verschlossen am Tage; denn da wird keine Nacht sein. 26 Und man wird die Pracht und den Reichtum der Völker in sie bringen. 27 Und nichts Unreines wird hineinkommen und keiner, der Gräuel tut und Lüge, sondern allein, die geschrieben stehen in dem Lebensbuch des Lammes.“

– Offenbarung, Kapitel 21

Nicht alle bautechnischen Details dieser Beschreibung sind übernommen – eine Kirche ist kein Kubus mit einer Kantenlänge von 12.000 Stadien –, da beim Bau gotischer Basiliken zahlreiche weitere Faktoren Einfluss genommen haben; doch lassen sich Detailbeschreibungen im Bau wiederfinden. Die Zahl Zwölf – mathematisch eine der interessantesten Zahlen überhaupt – spielt eine herausragende Rolle. Sie versinnbildlicht Apostel, die Stämme Israels, Propheten. Die Anzahl der Säulen – Paulus bezeichnet die Apostel als Säulen – in Sakralbauten und folglich der gesamte Kirchenbau – die Säulen sind tragend – nimmt hierauf Bezug. Das Gebäude lastet auf den Schultern des Alten und Neuen Testaments, in vielen Kirchen schmücken Apostel und Propheten die Säulen. Die Quadratur dieser Zahl, hundertvierundvierzig, spielt ebenso eine Rolle. Sie ist in der Offenbarung als Höhe der Stadtmauer in der Einheit Ellen zu finden. Die Länge der Hohen Domkirche zu Köln misst etwa 144 Meter. Dies ist augenfällig; doch bei zahlreichen Kirchen spielt diese heilige Zahl eine herausragende Rolle. Wichtig ist hier zu beachten, dass selbstredend viele unterschiedliche Maßeinheiten in Gebrauch waren, wir also den zugrundegelegten Maßstab kennen müssen.

Weitere Grundlagen gotischen Bauens

Die Basilika

Die Basilika ist ein antiker Prachtbau, der regulär profanen Zwecken diente. Hierbei handelt es sich um einen langgestreckten dreischiffigen Bau mit hohem Mittelschiff und niedrigen Seitenschiffen. Die Basilika, deren berühmteste Vertreterin vielleicht die Maxentiusbasilika aus dem 4. Jahrhundert ist, stellt die Grundform fast aller späteren Kirchenbauten dar.

Heilige Maße der Bibel

Das Himmlische Jerusalem der Offenbarung wurde bereits zitiert. Für den Kirchenbau spielen aber auch weitere Passagen der Heiligen Schrift, dem Alten Testament entnommen, eine große Rolle. Dies ist zum einen die Beschreibung bzw. der Bauplan der Arche des Noah:

14 Mache dir einen Kasten von Tannenholz und mache Kammern darin und verpiche ihn mit Pech innen und außen. 15 Und mache ihn so: Dreihundert Ellen sei die Länge, fünfzig Ellen die Breite und dreißig Ellen die Höhe. 16 Ein Fenster sollst du daran machen obenan, eine Elle groß. Die Tür sollst du mitten in seine Seite setzen. Und er soll drei Stockwerke haben, eines unten, das zweite in der Mitte, das dritte oben. 17 Denn siehe, ich will eine Sintflut kommen lassen auf Erden, zu verderben alles Fleisch, darin Odem des Lebens ist, unter dem Himmel. Alles, was auf Erden ist, soll untergehen.“

– 1. Buch Mose, Kapitel 6

Weitere Grundlagen des Kirchenbaus sind die Beschreibung von Bundeslade und Bundeszelt (Exodus 25,8–27,19), des Jerusalemer Tempels (1. Buch der Könige, Kapitel 6) – Abaelardus (1079–1142) bereits erläutert dezidiert musikalische Proportionen für das Bauwerk – und die Vision des Ezechiel (40–43).

Heilige Zahlen

Zahlensymbolik spielt für Theologen, Gelehrte und eben auch Bauherren des Mittelalters eine herausragende Rolle und ist allgegenwärtig in den Kirchenbau einbezogen.

Neben der Zahl Zwölf sind zahlreiche weitere Zahlen mit einem theologischen Bedeutungsgehalt aufgeladen.

Die Drei steht für die Trinität, das Göttliche, die Zahl Vier für die Erde (Jahreszeiten, Himmelsrichtungen, Elemente). Die Fünf ist die Menschzahl (Anzahl der Extremitäten, Finger der Hand usw.), steht aber auch für die Anzahl der Bücher Mose, die Wundmale Christi. Die Zahl Sechs ist schwer zu deuten und meist negativ besetzt, so in der Steigerung in der Zahl 666, der Zahl des Tiers der Offenbarung, nach heutiger Lesart eine Metapher für Kaiser Nero.

Die Zahl Sieben umfasst die sichtbare und unsichtbare Welt als Summe des Göttlichen (3) und Irdischen (4). Als Zahl der Vollkommenheit symbolisiert sie die Anzahl der Sakramente, der Todsünden, der Schöpfungstage und der Bitten des Vaterunser.

Der achte Tag ist der der Auferstehung Christi. Zahlreiche jüdische und christliche Rituale geschehen am achten Tag oder sind von achttägiger Dauer, auch sind die hebräischen Worte für Acht, Öl und Messias sprachverwandt. Am achten Tag erschien der Auferstandene den Jüngern, acht Menschen überlebten die Sintflut. So steht die Acht für Wiedergeburt. Tod und Wiedergeborenwerden in ein neues Leben symbolisiert der Akt der Taufe. Taufbecken und -kapellen sind oftmals oktogonal gebaut – so das Baptisterium des Lateran in Rom.

Die Zehn erinnert an Schöpferworte, Gebote und die Zahl der Jungfrauen und Plagen.

Gotische Baukunst und Musik

Symmetrie und Proportion sind häufig angeführte Kennzeichen von Schönheit und spielen natürlich in der Baukunst eine herausragende Rolle – technisch (z. B. statisch) wie ästhetisch.

Eine Pyramide des alt-ägyptischen Reichs besitzt nicht nur einen quadratischen Sockel mit einer zuvor determinierten Basislänge. Auch der Neigungswinkel und die dadurch ermöglichte Gesamthöhe müssen zuvor kalkuliert werden. Ist der Winkel zu steil gewählt, ist die planmäßige Vollendung des Baus nicht möglich, wie die Knickpyramide des Königs Snofru, etwa 2670 bis 2620 v. Chr., mit einem zu steil gewählten Winkel von 58° bis 60° eindrucksvoll belegt. Die Relation von Basislänge und Neigungswinkel unter anderem ist entscheidend für die Stabilität einer vergleichbar großen Steinpyramide.

In der Gotik verbinden sich Proportionen in statischer, ästhetischer und mystischer Hinsicht in einzigartiger Weise.

Es mag erstaunen, dass Musik Grundlage mannigfacher Proportionen einer gotischen Kathedrale ist. Erklingt ein musikalischer Ton, schwingen unendlich viele weitere Töne mit. Einzig bei der rein elektronisch erzeugbaren Sinus-Cosinus-Schwingung ist dies nicht gegeben. Die relativen Lautstärken der Obertöne zum Grundton wie zueinander bestimmen die Klangfarbe eines jeden Tons.

Gezeigt wird ein Notensystem mit einer Teiltonreihe. Die Töne, die in unserem gleichstufigen Tonsystem als ‚schräg‘ empfunden werden, obwohl sie mathematisch korrekt sind, sind rot markiert.
Teiltonreihe auf Groß-C

Während der tiefste Ton eindeutig determiniert ist – es ist dies der real gespielte –, ist die Obertonreihe nach oben offen, wobei die Intervalle nach oben hin sowohl kleiner als auch unreiner werden.

Die Obertonstruktur ist immer identisch und spielt in der Musik eine herausragende Rolle. Nicht nur klingen diese Töne über jedem gespielten Ton mit, auch sind diese Töne für zahlreiche Instrumente die einzig möglich spielbaren – immer in relativer Abhängigkeit zum Grundton betrachtet. Blechblasinstrumente, die keine Ventile oder Züge besitzen, können ausschließlich die gezeigten Töne spielen. Die Tonfolge fungiert nun als sogenannte Naturtonreihe. Der Begriff Naturtonreihe bezeichnet die Reihe als spielpraktische, der Begriff Teilton- (bzw. Partialton-) oder Obertonreihe als akustische, wobei der 1. Oberton dem 2. Teilton entspricht.

Die unteren, reinen Intervalle – also besonders die Abstände zwischen 1. und 2. Teilton, zwischen 2. und 3., 3. und 4. sowie 4. und 5. –,lassen sich mathematisch durch einfache Teilungsverhältnisse ausdrücken. Der tiefste Ton des Violoncellos ist das große C, also der hier gezeigte erste Teilton, und dient im Folgenden als Beispiel. Halbiert man die Länge der C-Saite, erhält man zwei gleich lange Teilsaiten. Wird eine dieser Teilsaiten angeregt (gezupft oder gestrichen), erklingt die Oktave über der leeren Saite, das kleine c. Das Teilungsverhältnis ist 2:1, von zwei gleich großen Teilen wird eine Hälfte angeregt.

Wird die C-Saite in drei gleich große Teile unterteilt und der längere angeregt, erklingt die reine Quinte über dem Bezugston groß C. Wichtig ist zu unterstreichen, dass nicht das kleine g der Naturtonreihe, sondern das große G erklingt. Bei der Naturtonreihe erfolgen die Intervallsprünge und -schritte jeweils vom vorangegangenen Ton aus. Die Naturtonreihe dient der Verdeutlichung der ‚natürlichen Physikalität‘ der Intervalle. Wir betrachten die Intervalle jeweils vom Bezugston C ausgehend. Diese werden immer kleiner, nähern sich also sukzessive dem Bezugston an.

Intervalle über Groß-C. Gezeigt sind die Oktave, die Quinte, Quarte und große Terz.
Intervalle über C

Das Teilungsverhältnis der Quinte ist folglich 3:2; zwei Teile der gedrittelten C-Saite werden zum Schwingen gebracht.

Die Teilungsverhältnisse der weiteren Intervalle setzen sich logisch fort; für die Quarte ist dies 4:3, für die große Terz 5:4. Detailinformationen mit zahlreichen mathematischen Operationen finden sich in dem Aufsatz „Der Wolf in der Musik“, auf den nochmals verwiesen sein soll.

Die genannten musikalischen Basis-Teilungsverhältnisse bzw. die reinsten Intervalle finden sich als „gefrorene Musik“ im Kirchenbau der Gotik wieder, wozu einige Beispiele genannt sein sollen. Diese sind an einzelnen Kathedralen oder den aufgezeichneten Grundrissen ausgemessen worden. Nicht jedes aufgeführte Teilungsverhältnis ist in einer jeden Kathedrale nachweisbar; doch zeigen sich die mannigfachen Möglichkeiten, musikalische Intervalle im Bau einzufrieren.

Notre-Dame de Paris, Grundriss
Notre-Dame de Paris, Grundriss

Zahllose weitere Beispiele könnten genannt werden. Die angeführten verdeutlichen, dass musikalische Intervalle in den Sakralbauten der Gotik omnipräsent sind. In der Summe bilden die Töne den ‚Grundakkord‘ der Musik, den Dur-Dreiklang. Dennoch liegt die Vermutung nahe, dass die Architekten diese einfachen Teilungsverhältnisse aus rein ästhetischen Gründen und zugunsten einfacher Mathematik, weniger im Bezug auf die Musik gewählt haben. Ein musikalischer Kontext drängt sich nicht auf.

Tatsächlich ist belegbar, dass die Teilungsverhältnisse von den musikalisch reinen Intervallen abgeleitet wurden. Grundlage ist die Vorstellung einer Sphärenharmonie, musica mundana, wie sie seit der Antike nachzuweisen ist und wohl auf Pythagoras von Samos, der als Erster die Musik mathematisch beschrieben hat und der über dem Königsportal der Kathedrale von Chartres zu sitzen kommt, zurückgeht. Sie besagt, dass bei der Bewegung von Sphären und Planeten Töne entstehen, die Musik in der Folge auf den gleichen Gesetzmäßigkeit wie die Astronomie beruhe, wobei sich der Begriff der Weltmusik im der Musiktheorie des Mittelalters etabliert. Der Himmelsphäre wird aufgrund der schnellen Bewegung der höchste Ton zugewiesen, dem riesenhaften Saturn der tiefste. „Die Sonne tönt, nach alter Weise, | In Brudersphären Wettgesang, | Und ihre vorgeschriebne Reise | Vollendet sie mit Donnergang“, stimmt Erzengel Raphael noch im Goethe’schen Faust den Prolog im Himmel an.

Später hat Augustinus von Hippo (354–430) seine sechs Bücher De Musica verfasst, von denen einige Teile – besonders wohl 1 und 6 – im mittelalterlichen Europa weite Verbreitung gefunden haben. Augustinus’ Lehren und Erkenntnisse haben den Kathedralbau maßgeblich beeinflusst.

Erst 1570 hat Andrea Palladio seine Architekturtheorie, die Vier Bücher zur Architektur, veröffentlicht. Aus chronologischen Gründen für den Kathedralbau der Gotik nicht relevant, finden sich auch in der Schrift des Renaissancemeisters erhellende Hinweise zum Verhältnis von Musik und Architektur.

Das gottgemachte All findet sich im Irdischen der Musik wieder, zur Natur wird Übernatur, gottgegebene Gesetzmäßigkeiten werden auf die Architektur gespiegelt, die imitatio naturae.


Das Mittelalter war sicherlich keine dunkle Zeit, die gotischen Kathedralen geben hiervon beredtes, wenngleich heute deutlich verblasstes Zeugnis. Die sprichwörtliche mittelalterliche Finsternis hat doch eine eine andere Qualität als der Begriff dunkel, kann er sich auf geistige und moralische Finsternis ausdehnen, auf das Führen von Kriegen und Kreuzzügen, auf den Verlust römisch-griechischer Kultur und ihrer technischer Errungenschaften. Der schwarze Tod und andere Erreger rafften große Teile der Bevölkerung Europas hin.

Umso mehr strahlt uns bis heute die lichtreiche Gotik entgegen. Es ist dies eins ihrer Wunder, dass ausgerechnet die Summe statischer Notwendigkeiten zum stilprägenden ästhetischen Merkmal einer ganzen Epoche wurde. Die ‚äußere‘, technische Notwendigkeit wandelt sich zu einer inwendigen, ästhetischen, religiösen. Sinnhaftigkeit, Sinnlichkeit und die Idee des Übersinnlichen – wir sprachen eingangs von Semantik und Semiotik, von Ästhetik und Glauben – vereinen sich zu jenem Dur-Dreiklang, der aus dem nur einen Grundton hervorgeht.

Das Ideal des leuchtenden Raums, das gelenkte Spiel des Lichts, raumgewordene Lichttheologie2 als Ahnung der Schau wahren Lichts ist Wesenskern gotischen Bauens, das Himmlische Jerusalem nicht ein Ort über den Wolken, sondern eine Vision der Stadt Gottes, die auf die neue Erde niedergeht. Die Bauherren des Mittelalters schaffen ein Abbild für die Jetztzeit – ein Abbild aus klingender und visualisierter, eben erstarrter Musik und nie zuvor gesehener Architektur des Lichts.


  1. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass nachträglich, 1330, die Chorkapellen und der Chorumgang eingebaut bzw. ‚umbaut‘ wurden. Der nun deutlich vergrößerte Umriss des Chors musste sich im Langhaus des Kathedrale fortsetzen, so dass die Kirche nun siebenschiffig erscheint. Das zuvor bereits beidseitig um je ein Joch verlängerte Querhaus erhielt die neuen, unfassbar gearbeiteten und heute weltberühmten Fassenden mit ihren ‚strahlenden‘ Rosen.↩︎

  2. Die Lichttheologie geht auf den Kirchenvater Pseudo-Dionysius Areopagita zurück, ein eigentlich anonym gebliebener Autor des 6. Jahrhunderts.↩︎