I Quattro TemperamentiConcerto für Blockflöte und Streicherensemble
Spritzig-virtuos und lyrisch, hier mit Verve auftrumpfend, dort intim und in sich gekehrt, von überschäumender Lebensfreude oder großer Melancholie – kurzum: barock. So präsentiert sich das Blockflötenkonzert in seiner ihm eigenen Tonsprache.
Die vier Temperamente
Der Titel des viersätzigen Werks, I Quattro Temperamenti, nimmt Bezug auf die Temperamentenlehre. Diese fußt auf der antiken Vier-Elemente-Lehre sowie auf jener von den vier Säften, der sogenannten Humoralpathologie, deren Entwicklung Hippokrates zugeschrieben wird.
Die Temperamentenlehre gliedert die menschlichen Charaktere in vier grundlegende Typen, eben die Temperamente. Galenos von Pergamon verknüpfte diese Lehre mit der älteren Viersäftelehre, so dass den grundlegenden Charaktertypen Körpferflüssigkeiten, Blut, Schleim, schwarze wie gelbe Galle, zugeordnet werden wie auch Tiere, Planeten, Tierkreiszeichen, Temperaturen, Jahreszeiten, Organe und Menschenalter.
Johann Wolfgang von Goethe ordnete überdies den Temperamenten Farben zu und überlieferte zusammen mit Freund Friedrich Schiller das Ergebnis als aquarellierte Zeichnungen der Nachwelt.
Die einzelnen Sätze des Konzerts
Der erste Satz des Konzerts, Il sanguigno, ist ein spielfreudiger, ungebunden barocke Lebensfreude zum Ausdruck bringend. Virtuos, ein wenig ungestüm, mit zahllosen Taktwechseln einhergehend rast der Satz voran. Der Lebensfreude ist ein Motiv geschuldet, ein schlichten Tonleitermotiv, das jedoch im Übermut das Ziel in Aufwärtsrichtung jeweils um einen Ton übersteigt.
Nach einer Passage groß gebrochener Akkorde des Ensembles, überschwebt von getragenen Flötenlinien, dann einer Art freiem Da capo wird die Schlussphase mit dem Tonleitermotiv im gesamten Ensemble eingeleitet – die Flöte schweigt hier –, bis der Satz ungestüm im Unisono in den Schluss rast.
La malinconia ist der Titel des zweiten Satzes. Wie im übrigen Konzert ist auch hier die Darstellung des Temperaments abstrakt, übertragen, mittelbar und nicht im streng programmatischen zu verstehen.
Ein schlichtes Wechselnotenmotiv schafft es endlich, sich als Tonleiter aufzuschwingen. Wie im Kopfsatz gelangt die Tonleiter über ihr Ziel hinaus; doch erreicht wird lediglich die kleine, die phrygische None, was das Motiv in ein schwermütig-melancholisches abfärbt.
Wir kennen Dürers Interpretation der Melancholie, einen Meisterstich aus dem Jahre 1514, eine Zahl, die der Kupferstecher auch im magischen Quadrat untergebracht hat. Der Gesichtsausdruck der Dürer’schen allegorischen Figur ist pikiert, durchaus gelangweilt. Unsere Melancholie ist jedoch von anderem Charakter. Im Verlauf des Satzes präsentiert sie sich als schwärmerisch und leidenschaftlich, erotisch, fast lasziv. Nach anfänglichem Leid strebt die Melancholie einem Höhepunkt zu, über eine lange Strecke aufgebaut. Thematik und Motivik dieser Passagen begegnen und im Verlauf der weiteren Sätze.
Es folgt eine traurige wie schwärmerische Melodie der Flöte, meist akkordisch begleitet vom Ensemble. Plötzlich marschartiger Rhythmus im gesamten Klangkörper wiederum bei großer Dynamik und Ausatmen bei Flageolettklängen.
Im dritten Satz ist das Ensemble bemüht, die phlegmatische Blockflöte zum Spiel zu motivieren. Fugierend setzen alle Instrumente nacheinander ein; doch das Soloinstrument verweigert schließlich die Folge. Auch der Beginn des Fugenthemas ist ableitbar vom Tonleitermotiv der vorausgeschickten Sätze. Hier nun wird der Leitton im Sprung erreicht, um sich mit Aufwärtsschritt in einen unerwartet gesetzten weiteren Leitton in die Höhe zu katapultieren.
Unerwartet wirft die Flöte die „Muss es sein“-Motive aus Ludwig van Beethovens letztem Streichquartett, dem in F-Dur op. 135, ein. Die übrigen Instrumente begleiten mit hämmernden Rhythmen. Wie nach einem Weckruf und zur Überwindung eigenen Leids spielt die Flöte das raumgreifende Hauptthema des Satzes. Es erklingt in der Flöte diminuiert, im Ensemble gleichzeitig frei augmentiert. Interessant ist zu beobachten, dass es – zunächst – nur eine ausführbare Thementransposition für die Blockflöte gibt, ihrem recht geringen Ambitus geschuldet. Bei anderer Transposition fehlen tiefe oder hohe Töne. Auch das Gefangensein an die nur eine Möglichkeit der Ausführung ist programmatisch zu verstehen, symbolhaft für die Unfähigkeit der charakterlichen Entwicklung und die Antriebslosigkeit des phlegmatischen Charakters.
Plötzlich dann versucht die Blockflöte einen Themenbeginn ab dem einen Halbton tiefer liegenden notierten d’. Zielton ist das notierte cis’’, ein Ton, der auf der Blöckflöte eigentlich nicht spielbar ist. Um diesen Ton jedoch zu realisieren, muss die Spielerin oder der Spieler die untere Öffnung der Blockflöte mit dem Oberschenkel verschließen. Bei üblicher stehender Spielweise muss ein Bein angehoben und der Kopf weit abgesenkt werden – gleichermaßen elegante Pose wie Ausdruck des totalen Zusammenbruchs.
Der Finalsatz hebt mit einer Kadenz an, die ungezählte, auch kleinste Partikel der vorangegangenen Sätze verarbeitet und kombiniert – Farbverläufen bei Goethes Temperamentenrose vergleichbar. Tempo und Ausdrucksgehalt sind rasend. Nach kurzer Beruhigung beginnt ein Variationszyklus im Ensemble. Die Blockflöte schweigt zunächst, wie zur notwendigen Erholung. Bei der Folge von Variationen handelt es sich um eine Passacaglia, wiederum Tribut an die Barockzeit und das Italien Vivaldis; doch anders als seinerzeit ist in unserem Konzert nicht nur eine Stimme beibehalten, sondern es sind derer drei.
Erst spät setzt die Blockflöte wieder ein. Diese übernimmt jedoch nicht den ruhigen Charakter der übrigen Instrumente, sondern konzertiert virtuos wie zuvor. Sinnbildlich ist diese scheinbare Losgelöstheit vom Ensemble zu verstehen.
Große Steigerung mit fast romantisch anmutenden Klängen. Ziel ist die Musik des Höhepunkts des zweiten Satzes, hier jedoch – und dies lässt diesen Abschnitt musikalisch und technisch kompliziert erscheinen – gleichfalls Variation der durchweg fortlaufenden Passacaglia.
Das wütend-virtuose Spiel des Soloinstruments verliert sich zunehmend, und schließlich konzertiert die Blockflöte mit einer schwärmerischen Melodie, die die übrigen Instrumente homophon, gebrochen-akkordisch begleiten. Alles an dieser Passage scheint neu; doch ist das fallende Motiv des Ensembles bereits am Ende des dritten Satzes vom Violoncello antizipiert worden.
Das Sich-Angleichen der Flöte an den Charakter der Gruppe kulminiert in einem elegisch-intimen Pas de deux zwischen Blockflöte und Solo-Cello. Es ist dies der wohl intimste Moment des Konzerts.
Einer Stille folgend hebt das gesamte Ensemble mit Glockenmotiven an. Auch diese scheinen neu – begegneten zuvor nur versteckt; doch tatsächlich ist das Motiv abgeleitet von den drei letzten Tönen des Themas des dritten Satzes. In das Geläute hinein spielt die Flöte ihre Pas-de-deux-Linie, wie zur Erinnerung.
Neuerlicher Abbruch. Dann schnellste Passagen des Soloinstruments wie zu Beginn. Glockenmotive werden eingestreut und vom Ensemble im Tremolo gespiegelt. Schließlich endet der Satz im Unisono-Rausch des Kopfsatzes.