Lieder im EntgleitenFür Bariton und Orchester

Die Vergänglichkeit stürzt überall
In ein tiefes Sein.

– Rainer Maria Rilke

Auch das Schöne muss sterben.
Doch alle, die in Schönheit gehn,
werden in Schönheit auferstehn.

– Friedrich von Schiller, Nänie; Rainer Maria Rilke, Engellieder

Die Lieder im Entgleiten sind ein Werk für Orchester, Fernorchester und Bariton und setzen sich mit einer grundlegenden Betrachtung des Todes auseinander, dem Tod als einer „Erschütterungsmacht unseres Lebens“, wie der Lyriker Hartmut Oliver Horst ihn nennt.

In drei Stationen zu jeweils drei Sätzen folgt das Werk dem Tod und dem Sterben gewissermaßen aus einer angstfrei-pathetischen wie auch einer wissenschaftlich-philosophischen und einer religiösen Perspektive.

Mit seinem Wechsel von zentralen Kunstliedern – hier jeweils ein Gedicht vertonend – und rahmenden freien Sätzen, die aus literarischen Werken der Religion, der Poesie, der Mythologie und Philosophie zusammengesetzte Worte vertonen, schwebt das Werk formal zwischen groß angelegtem Liederzyklus und ‚Lieder-Kantate‘ mit umfangreichen dramatischen, gleichsam opernhaften Momenten, die sich im Schluss verdichten.

Die großen Erschütterungsthemen des Menschen kommen zur Sprache, werden „in literarisch gewaltigen wie subtilen Bildern gemalt, hymnisch bedichtet und elegisch beweint, in einer Sprache, rätselhaft, sublim, schön, mit Worten, die gleich einer intensiven Gefühlsmelodik selber wie Musik ertönen“.

Fast 4000 Jahre alte ägyptische Lyrik verbindet sich mit Texten der Bibel, Dichtungen von Andreas Gryphius, Paul Celan, Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Hölderlin, Hartmut Oliver Horst, Justinus Kerner, Michelangelo, Alexander Pope, Rainer Maria Rilke und Friedrich von Schiller mit Passagen der großen dramatischen Dichtungen des William Shakespeare, philosophischen Aphorismen, Sentenzen und Erkenntnissen von Plotin, Bonhoeffer, Chayyām, Shabestarī und den letzten Worten bedeutender Persönlichkeiten.

Ein großer Orchesterapparat bebildert die Texte auf nahezu romantische Weise, großen Klang, Pathos und Dramatik nicht scheuend, und verbindet die Texte doch so unterschiedlicher Gattungen in einer schöpferischen Synthese zu einem dicht gewebten Geflecht zahlloser Motive.

Gedanken zu Endlichkeit und Tod, doch auch die Feier des Hierseins und eine Perspektive von Ewigkeit prägen Station I, deren im Zentrum stehendes Lied zahlreiche Motive aufstellt, die das gesamte Werk durchziehen und prägen werden – Motive der Sehnsucht, des Rätsels und Rätselns, des Kranichzugs, Motive des Lichts und der Sonne.

Zentrum der motivischen Arbeit ist eine musikalische, das Schreiten des Todes versinnbildlichende Tonsignatur. Eine besondere Harmoniefortschreitung erhebt sich symbolisch auferklingend zu immer neuen Höhen, doch ohne zu einem Ende zu gelangen. So erlangt der Tod, wenngleich in Passagen düster und fahl dargestellt, durch eine musikalisch-textliche Inspiration ein erhebendes und überhöhendes Moment, gewissermaßen die Synthese antizipierend, die das Werk beschließen wird.

Der zweite Teil, „Gespräche“, ist ein dramatischer. Das lyrische Ich hält Zwiesprache mit sich selbst und seiner Seele, Weisheiten empfangend und diese an das Publikum gerichtet weitergebend.

Die abschließende Verklärung ist eine Verklärung im Sange. „Gesang ist Ewigsein“ ist die den Zyklus beschießende und auf eine Zeit der Unzeitlichkeit verweisende Aussage, die der Komponist den Sonetten an Orpheus Rainer Maria Rilkes abgewonnen hat.

So feiert der vorliegende opulente Zyklus in seinem Tiefsten und Höchsten – das Leben.

Die Musik der Lieder im Entgleiten entfacht eine Seelenkontrapunktik harmonischer und dissonanter Kontrastierungen der gegensätzlichen Wesenheiten von Leben und Tod. Ihr Melos trägt zugleich die seelischen Motive der Singstimme im Triumpfgesang einer Verklärung.

– Harmut Oliver Horst

Wenn der Philosoph Wolfram Eilenberger schreibt, der Mensch – zumindest in der heutigen Zeit und der westlichen, abendländischen Welt – leide an einer „Transzendenz-Armut“, mag das vorliegende Werk auch der Versuch sein, den Menschen wieder mit sich selbst, seinem Leben und Sterben, seiner Um- und Mitwelt zu verbinden, doch eben auch die Ahnung einer den Erfahrungshorizont der Endlichkeit übersteigenden Wirklichkeit zuzulassen, wodurch der Liederzyklus – so bleibt zu hoffen – seine Bedeutung und Aktualität gewinnt, der Hörerin und dem Hörer im besten Falle die Erfahrung eines „Sinn-Ganzen“ ermöglichend, wie es der Musikwissenschaftler Martin Geck dem Kunstlied attestiert.

Das Ölgemälde Edvard Munchs zeigt den Aufgang einer riesigen Sonne, die das ganze Bild einnimmt. Im Vordergrund felsige Hügel und Bäume, die das Wasser des Fjords einrahmen
Edvard Munch, Sonnenaufgang über dem Fjord

Dem Zyklus zugeordnet ist ein Bild Edvard Munchs. Es zeigt einen Sonnenaufgang über dem Fjord, ein Motiv, das Munch mindestens achtmal festgehalten hat. Munch, der eher einer ‚Düsternis‘ zuneigt, zeigt hier das Licht eines neuen Tags, das nach den altägyptischen Mythen auf ein neues, ewiges Leben, ein Leben im Lichtland hinweisen mag. Der Lichtstrahl, der im Wasser stehend das Land blau berührt, scheint einer Person gleich, die gleichsam verklärt auf den Punkt im Zentrum der Sonne schaut, um auf diesen zuzuschreiten.