Musikalische Haus- und LebensregelnVerfasst von Robert Schumann

Die Musikalischen Haus- und Lebensregeln hat der Komponist Robert Schumann erstmalig 1850 in der von ihm selbst, Friedrich Wieck sowie Ludwig Schuncke und Julius Knorr gegründeten Neuen Zeitschrift für Musik veröffentlicht.

1851 wurden die Lebensregeln als Anhang in die zweite Auflage des Album für die Jugend op. 68 aufgenommen.


Die Bildung des Gehörs ist das Wichtigste. Bemühe dich frühzeitig, Tonart und Ton zu erkennen. Die Glocke, die Fensterscheibe, der Kukuck – forsche nach, welche Töne sie angeben.

Du sollst Tonleitern und andere Fingerübungen fleißig spielen. Es giebt aber viele Leute, die meinen, damit Alles zu erreichen, die bis in ihr hohes Alter täglich viele Stunden mit mechanischem Ueben hinbringen. Das ist ungefähr ebenso, als bemühe man sich täglich, das A-B-C möglichst schnell und immer schneller auszusprechen. Wende die Zeit besser an.

Man hat sogenannte „stumme Claviaturen“ erfunden; versuche sie eine Weile lang, um zu sehen, daß sie zu nichts taugen. Von Stummen kann man nicht sprechen lernen.

Spiele im Takte! Das Spiel mancher Virtuosen ist wie der Gang eines Betrunkenen. Solche nimm dir nicht zum Muster.

Lerne frühzeitig die Grundgesetze der Harmonie.

Fürchte dich nicht vor den Worten: Theorie, Generalbaß, Contrapunkt etc.; sie kommen dir freundlich entgegen, wenn du dasselbe thust.

Klimpere nie! Spiele immer frisch zu, und nie ein Stück halb! –

Schleppen und eilen sind gleich große Fehler.

Wenn du spielst, kümmere dich nicht darum, wer dir zuhört.

Spiele immer, als hörte dir ein Meister zu.

Bemühe dich, leichte Stücke gut und schön zu spielen; es ist besser, als schwere mittelmäßig vorzutragen.

Du hast immer auf ein rein gestimmtes Instrument zu halten.

Nicht allein mit den Fingern mußt du deine Stückchen können, du mußt sie dir auch ohne Clavier vorträllern können. Schärfe deine Einbildungskraft so, daß du nicht allein die Melodie einer Composition, sondern auch die dazu gehörige Harmonie im Gedächtniß festzuhalten vermagst.

Bemühe dich, und wenn du auch nur wenig Stimme hast, ohne Hülfe des Instrumentes vom Blatt zu singen; die Schärfe deines Gehörs wird dadurch immer zunehmen. Hast du aber eine klangvolle Stimme, so säume keinen Augenblick sie auszubilden, betrachte sie als das schönste Geschenk, das dir der Himmel verliehen! –

Du mußt es so weit bringen, daß du eine Musik auf dem Papier verstehst.

Legt dir Jemand eine Composition zum erstenmal vor, daß du sie spielen sollst, so überlies sie erst.

Hast du dein musikalisches Tagewerk gethan und fühlst dich ermüdet, so strenge dich nicht zu weiterer Arbeit an. Besser rasten, als ohne Lust und Frische arbeiten.

Spiele, wenn du älter wirst, nichts Modisches. Die Zeit ist kostbar. Man müßte hundert Menschenleben haben, wenn man nur alles Gute, was da ist, kennen lernen wollte.

Es hat zu allen Zeiten schlechte Compositionen gegeben und Narren, die sie gepriesen haben.

Aller Passagenkram ändert sich mit der Zeit; nur, wo die Fertigkeit höheren Zwecken dient, hat sie Werth.

Schlechte Compositionen mußt du nicht verbreiten, im Gegentheil sie mit aller Kraft unterdrücken helfen.

Du sollst schlechte Compositionen weder spielen, noch, wenn du nicht dazu gezwungen bist, sie anhören.

Such’ es nie in der Fertigkeit, der sogenannten Bravour. Suche mit einer Composition den Eindruck hervorzubringen, den der Componist im Sinne hatte; mehr soll man nicht; was darüber ist, ist Zerrbild.

Betrachte es als etwas Abscheuliches, in Stücken guter Tonsetzer etwas zu ändern, wegzulassen, oder gar neumodische Verzierungen anzubringen. Dies ist die größte Schmach, die du der Kunst anthust.

Wegen der Wahl im Studium deiner Stücke befrage Aeltere; du ersparst dir dadurch viel Zeit.

Du mußt nach und nach alle bedeutenderen Werke aller bedeutender Meister kennen lernen.

Laß dich durch den Beifall, den sogenannte große Virtuosen oft erringen, nicht irre machen. Der Beifall der Künstler sei dir mehr werth, als der des großen Haufens.

Alles Modische wird wieder unmodisch, und treibst du’s bis in das Alter, so wirst du ein Geck, den Niemand achtet.

Viel Spielen in Gesellschaften bringt mehr Schaden, als Nutzen. Sieh dir die Leute an; aber spiele nie etwas, dessen du dich in deinem Innern zu schämen hättest.

Versäume aber keine Gelegenheit, wo du mit Anderen zusammen musiciren kannst, in Duo’s, Trio’s etc. Dies macht dein Spiel fließend, schwungvoll. Auch Sängern accompagnire oft.

Wenn Alle erste Violine spielen wollten, würden wir kein Orchester zusammen bekommen. Achte daher jeden Musiker an seiner Stelle.

Liebe dein Instrument, halte es aber nicht in Eitelkeit für das höchste und einzige. Bedenke, daß es noch andere und ebenso schöne gibt. Bedenke auch, daß es Sänger giebt, daß im Chor und Orchester das Höchste der Musik zur Aussprache kommt.

Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.

Spiele fleißig Fugen guter Meister, vor Allen von Joh. Seb. Bach. Das „wohltemperirte Clavier“ sei dein täglich Brod. Dann wirst du gewiß ein tüchtiger Musiker.

Suche unter deinen Kameraden die aus, die mehr als du wissen.

Von deinen musikalischen Studien erhole dich fleißig durch Dichterlectüre. Ergehe dich oft im Freien! –

Von Sängern und Sängerinnen läßt sich manches lernen, doch glaube ihnen auch nicht alles.

Hinter den Bergen wohnen auch Leute. Sei bescheiden, du hast noch nichts erfunden und gedacht, was nicht Andere vor dir schon gedacht und erfunden. Und hättest du’s, so betrachte es als ein Geschenk von Oben, das du mit Anderen zu theilen hast.

Das Studium der Geschichte der Musik, unterstützt vom lebendigen Hören der Meisterwerke der verschiedenen Epochen, wird dich am schnellsten von Eigendünkel und Eitelkeit curiren.

Ein schönes Buch über Musik ist das: „Ueber Reinheit der Tonkunst“ von Thibaut. Lies es oft, wenn du älter wirst.

Gehst du an einer Kirche vorbei und hörst Orgel darin spielen, so gehe hinein und höre zu. Wird es dir gar so wohl, dich selbst auf die Orgelbank setzen zu dürfen, so versuche deine kleinen Finger und staune vor dieser Allgewalt der Musik.

Versäume keine Gelegenheit, dich auf der Orgel zu üben; es giebt kein Instrument, das am Unreinen und Unsauberen im Tonsatz wie im Spiel alsogleich Rache nähme, als die Orgel.

Singe fleißig im Chor mit, namentlich Mittelstimmen. Dies macht dich musikalisch.

Was heißt denn aber musikalisch sein? Du bist es nicht, wenn du die Augen ängstlich auf die Noten gerichtet, dein Stück mühsam zu Ende spielst; du bist es nicht, wenn du (es wendet dir Jemand etwa zwei Seiten auf einmal um,) stecken bleibst, und nicht fortkannst. Du bist es aber, wenn du bei einem neuen Stück das, was kommt, ohngefähr ahnest, bei einem dir bekannten, auswendig weißt, – mit einem Worte, wenn du Musik nicht allein in den Fingern, sondern auch im Kopf und Herzen hast.

Wie wird man aber musikalisch? Liebes Kind, die Hauptsache, ein scharfes Ohr, schnelle Auffassungskraft, kömmt wie in allen Dingen von Oben. Aber es läßt sich die Anlage bilden und erhöhen. Du wirst es, nicht dadurch daß du dich einsiedlerisch Tagelang absperrst, und mechanische Studien treibst, sondern dadurch, daß du dich in lebendigem, vielseitig-musikalischem Verkehr erhältst, namentlich dadurch, daß du viel mit Chor und Orchester verkehrst.

Höre fleißig auf alle Volkslieder; sie sind eine Fundgrube der schönsten Melodieen, und öffnen dir den Blick in den Charakter der verschiedenen Nationen.

Uebe dich frühzeitig im Lesen der alten Schlüssel. Viele Schätze der Vergangenheit bleiben dir sonst verschlossen.

Achte schon frühzeitig auf Ton und Charakter der verschiedenen Instrumente; suche ihre eigenthümliche Klangfarbe deinem Ohr einzuprägen.

Gute Opern zu hören, versäume nie.

Ehre das Alte hoch, bringe aber auch dem Neuen ein warmes Herz entgegen. Gegen dir unbekannte Namen hege kein Vorurtheil.

Urtheile nicht nach dem Erstenmalhören über eine Composition; was dir im ersten Augenblick gefällt, ist nicht immer das Beste. Meister wollen studirt sein. Vieles wird dir erst im höchsten Alter klar werden.

Bei Beurtheilung von Compositionen unterscheide, ob sie dem Kunstfach angehören, oder nur dilettantische Unterhaltung bezwecken. Für die der ersten Art stehe ein; wegen der anderen erzürne dich nicht! –

„Melodie“ ist das Feldgeschrei der Dilettanten, und gewiß eine Musik ohne Melodie ist gar keine. Verstehe aber wohl, was jene darunter meinen; eine leichtfaßliche, rhythmisch-gefällige gilt ihnen allein dafür. Es giebt aber auch andere anderen Schlages, und wo du Bach, Mozart, Beethoven aufschlägst, blicken sie dich in tausend verschiedenen Weisen an: des dürftigen Einerlei’s namentlich neuerer italienischer Opernmelodieen wirst du hoffentlich bald überdrüssig. -

Suchst du dir am Clavier kleine Melodieen zusammen, so ist das wohl hübsch; kommen sie dir aber einmal von selbst, nicht am Clavier, dann freue dich noch mehr, dann regt sich in dir der innere Tonsinn. – Die Finger müssen machen, was der Kopf will, nicht umgekehrt.

Fängst du an zu componiren, so mache Alles im Kopf. Erst wenn du ein Stück ganz fertig hast, probire es am Instrumente. Kam dir deine Musik aus dem Innern, empfandest du sie, so wird sie auch so auf Andere wirken.

Verschaffe dir frühzeitig Kenntniß vom Dirigiren, sieh dir gute Dirigenten oft an; selbst im Stillen mit zu dirigiren, sei dir unverwehrt. Dies bringt Klarheit in dich.

Sieh dich tüchtig im Leben um, wie auch in anderen Künsten und Wissenschaften.

Die Gesetze der Moral sind auch die der Kunst.

Durch Fleiß und Ausdauer wirst du es immer höher bringen.

Aus einem Pfund Eisen, das wenig Groschen kostet, lassen sich viele tausend Uhrfedern machen, deren Werth in die Hunderttausend geht. Das Pfund, das du von Gott erhalten, nütze es treulich.

Ohne Enthusiasmus wird nichts Rechtes in der Kunst zu Wege gebracht.

Die Kunst ist nicht da, um Reichthümer zu erwerben. Werde nur ein immer größerer Künstler; alles Andere fällt dir von selbst zu.

Nur erst, wenn dir die Form ganz klar ist, wird dir der Geist klar werden.

Vielleicht versteht nur der Genius den Genius ganz.

Es meinte Jemand, ein vollkommener Musiker müsse im Stande sein, ein zum erstenmal gehörtes, auch complicirteres Orchester-Werk wie in leibhaftiger Partitur vor sich zu sehen. Das ist das Höchste, was gedacht werden kann.

Es ist des Lernens kein Ende.