Bergische SuiteQuintett in Zwölf Sätzen für Flöte, Oboe, Klarinette, Horn und Fagott

Die Entwicklung der Gesamtform erfolgte über zahlreiche Stationen: Zunächst als einsätziger Bläserquintettsatz (jetzt: Teile der Ouvertüre) geplant, folgten bald die Sechs Bagatellen. Drei Jahre später wurde das Werk um Fünf Interludien für je ein Soloinstrument erweitert, so dass nun ein komplexes zwölfsätziges Werk vorliegt, dessen Einzelsätze aufs engste miteinander verwandt sind.

Auch rückt das formale Konzept, für jedes beteiligte Instrument einen Solosatz zu schreiben, das Werk formal in die Nähe des Konzerts für Streichquartett SOLO, wenngleich im Falle des 2. Streichquartetts die Solo-Passagen als Kadenzen in die Tutti-Sätze integriert wurden.

Der Name

Der Werktitel Bergische Suite ist einerseits Tribut an die während der Arbeit an diesem Stück neu gewählte Heimat, das Bergische Land, andererseits Tribut an den Komponisten Claude Debussy und dessen Suite bergamasque. Der Begriff „bergamasque“ bezieht sich wohl auf eine Zeile des Gedichts Clair de Lune von Paul Verlaine: „Que vont charmant masques et bergamasques“. Eine weitere frappierende Querverbindung ergibt der Begriff „Bergamasca“ – auch wenn Debussy sich mit Sicherheit nicht hierauf bezieht: Bei der Bergamasca handelt es sich um einen alten Tanz, dessen Name auf die italienische Stadt Bergamo zurückgeht. Etymologisch leitet sich dieser Name womöglich von den deutschen Wörtern „Berg“ und „Heim“ ab, worauf der Name der Stadt im lokalen Dialekt verweist: „Bèrghem“. So werden die Begriffspaare „bergisch“–„bergig“ und „bergamasque“–„Bergamask“ auf zauberhafte Weise zusammengeführt und in den Kontext des Tanzes gehoben; denn um genau das handelt es sich bei der Suite – eine Sammlung von Tänzen.

Das Bläserquintett als Pendant zur Gattung des Streichquartetts

Das Bläserquintett entwickelte sich als Pendant zu der von Joseph Haydn begründeten Gattung des Streichquartetts; doch während alle Instrumente des Streichquartetts klanglich eine überaus homogene Gruppe bilden, so hört man frei nach Goethe1 im Bläserquintett – genauer: im Holz- oder klassischen Bläserquintett – fünf vernünftige Leute doch sehr unterschiedlichen Charakters sich untereinander unterhalten. Hohe Kunst der Interpreten ist es, die so unterschiedlichen Instrumente – darunter die silbrig-helle Flöte, der torfige Klang des Fagotts, der oft nasale, lyrische und doch erstaunlich durchsetzungsstarke Ton der Oboe und der Klang der Klarinette, der nach Zeitungspapier schmeckt – klanglich-dynamisch so zu disponieren, dass ein einziger Klangkörper entsteht. Mit dem Horn fügt sich ein Instrument in die Holzbläsergruppe ein, dass als Blechblasinstrument gar einer anderen Instrumentengruppe entstammt.

Zum Begriff Suite

Das französische Wort „suite“ bedeutet Abfolge. Die musikalische Form der Suite meint eine Folge von Instrumentalstücken in festgelegter Reihenfolge.

In Ihrer Hochzeit während Renaissance und Barock waren die zur Suite zusammengefassten Sätze meist paarig angeordnete oder zweiteilige Tanzsätze. Mit Ende des Barockzeitalters verlor die Suite schnell an Bedeutung, und in der Folgezeit fassten einige Komponisten Abfolgen von aus Oper oder Ballett entnommenen, teilweise stark bearbeiteten Instrumentalsätzen in der Suite zusammen.

Für das vorliegende Bläserquintett wurde der Titel Suite aufgrund der hohen Anzahl an Sätzen (die meisten mehrsätzigen musikalischen Formen umfassen entweder eine deutlich geringere Anzahl oder sind formal stärker gebunden, wie z. B. die Sonate oder der Variationszyklus), ihres motivisch-thematisch-musikalischen Zusammenhangs wegen, aufgrund des Tanzcharakters einzelner Sätze und wegen der vorangestellten ausladenden Ouvertüre verwendet.

Zum Begriff Bagatelle

Der Begriff „Bagatelle“, vom französischen Wort „bagatelle“, „Kleinigkeit“, abgeleitet, meint ursprünglich ein kurzes, formal ungebundenes Musikstück – vergleichbar mit dem romantischen Charakterstück und dem Moment Musical.

Erst später wurde der von Francois Couperin geprägte Begriff auf außermusikalische Dinge geringeren Bedeutungsgehalts (vgl. auch „Bagatelldelikt“) hin generalisiert.

Gleichwohl lässt eine Sammlung gerade von sechs Bagatellen an große Vorbilder denken, wie Ludwig van Beethoven (für Klavier, op. 126), Anton Webern (für Streichquartett, op. 9) und – ebenfalls für Bläserquintett – György Ligeti.

Zum Begriff Interludium

Das „Interludium“ ist ein Zwischenspiel (von lateinisch: „inter“: „zwischen“ und „ludus“: „Spiel“). Es wurde beispielsweise als instrumentaler Einlagesatz in der Oper verwendet, mitunter auch als modulierender Zwischensatz in der Suite. Letzteres stellt insofern eine Besonderheit dar, als dass oftmals alle Sätze der barocken Suite in der gleichen Tonart standen.

Im vorliegenden Werk sind die Interludien umfangreiche und virtuose Solosätze für je eins der fünf beteiligten Instrumente, die auch als autarke Solostücke aufgeführt werden können.

Die einzelnen Sätze

I. Ouvertüre

Die Ouvertüre hat eine gleichsam bewegte Geschichte hinter sich. War dieser Satz zunächst als Bläserquintett in einem Satz konzipiert, wurde er seines immensen Umfangs wegen zugunsten der Prägnanz der Bagatellen aus dem Zyklus herausgenommen, um schließlich – in radikal gekürzter Fassung – in das Werk re-integriert zu werden.

Ein Fünfton-Akkord wird in zahlreichen Transpositionen und Stellungen vorgestellt. Ihm entwachsen pflanzentriebartig mäandernd zart-melodische Linien, die in mehreren Bagatellen und Solo-Interludien aufgegriffen werden. So stellt die Ouvertüre die Keimzellen des gesamten Werks dar.

II. Bergamasca (Bagatelle Nr. 1)

Die Bergamasca ist zweiteilig aufgebaut. Im ersten schnellen Abschnitt übernimmt die Oboe die melodische Führung, während die übrigen Instrumente begleitend eingesetzt sind. Teil 2 – in zweiteiliger Binnenunterteilung – beginnt mit einem freien Klangfarbenexperiment, mündet schließlich in einen virtuosen Abschnitt frei gebrochener Cluster-Akkorde der drei „hohen“ Instrumente, wozu Horn und Fagott Motiv-Partikel vorangegangener Abschnitte bei lautester Dynamik einwerfen.

III. Bergamasca für Oboe (Interludium Nr. 1)

Bei der zweiten Bergamasca handelt es sich um ein nervös-virtuoses Werk, das den Eingangsteil der 1. Bagatelle figurativ verarbeitet. Von Pausen und der Notwendigkeit des Interpreten, Atem zu schöpfen, scheint sie zunächst nicht wissen zu wollen. Auch mit weiteren Sätzen des Bläserquintetts eng verbunden – dies zeigt sich in der Schlussphase immer deutlicher– endet das Interludium mit der Vorwegnahme eines Themas, das eigentlich erst mit der 3. Bagatelle vorgestellt werden möchte.

IV. Perpetuum Mobile (Bagatelle Nr. 2)

Die Perpetuum Mobile-Bagatelle rauscht förmlich am Hörer vorbei. Das Prinzip ist größte doch immer konstante Geschwindigkeit. Durch vagierende Phrasierungsmodelle wird der Eindruck wechselnder Tempi suggeriert. Motivisch ist diese Bagatelle eng mit der Ouvertüre und der daraus entnommenen Fughette verwandt.

V. Hevel havalim für Flöte Solo (Interludium Nr. 2)

„Hevel“ („‏הבל‎“) ist das hebräische Wort für „Atem, Hauch“ und der Name des jüngeren Sohns Adams und Evas (Deutsch: Abel). Das Wort ist zentraler Schlüssel für das Verständnis der Texte Kohelets und kommt 38 mal in seinem alttestamentlichen Buch vor. Er verwendet es jedoch nicht positiv besetzt im Sinne des Leben spendenden Atems, sondern besetzt es eindeutig negativ, so dass es im Englisch häufig mit „vanity“ (Nichtigkeit) übersetzt wird. Der Bezug zu Abel ist wohl bewusst gewählt; denn nach Lesart des Alten Testaments war Abel der erste Mensch, der sterben musste.2

Die Kohelet’sche Steigerung „Hevel havalim“, mit der sein Buch anhebt, wird im Deutschen häufig mit „Windhauch, Windhauch“ übersetzt. Sie wurde hier als Satztitel übernommen und verweist auf die sich später anschließenden Vanitas-Sätze.

Der Bezug zur Flöte ergibt sich wie folgt: Der Flötenklang ist ein überaus „luftiger“, und der Luftverbrauch beim Spiel dieses Instruments ist bekanntermaßen sehr hoch. Auch muss der Spieler den Luftstrom, das sogenannte Luftblatt, selber mit den Lippen formen; denn im Gegensatz zu den übrigen Blasinstrumenten übernimmt kein Mundstück diese Aufgabe.

Hevel havalim entstand als vorletzter der zwölf Sätze der Bergischen Suite und ist zugleich der unabhängigste unter diesen, bezieht er sich motivisch und thematisch doch auf keinen der übrigen. Der langsamen Einleitung wird ein sehr schneller Abschnitt gegenübergestellt. Die einzelnen Motive werden stark verarbeitend gruppiert, wobei die unterschiedlichen Motivgruppen durch verschiedene Tempi voneinander abgegrenzt werden. Da Motive und Tempi stets in Kopplung auftreten, sind häufige Tempoänderungen für das gesamte Stück charakteristisch.

VI. Kavale und Swirka. Hevels Lied und Tanz (Bagatelle Nr. 3)

Der Kaval, eine auf dem Balkan weit verbreitete Flötenart, die zu den Hirtenflöten gerechnet wird, wird in zwei grundlegenden Spielarten eingesetzt: von Hirten (Hevel/Abel war Hirte) gespielt dienen mantra-artige Wiederholungen melodischer Phrasen der Beruhigung ihrer Herde. Das andere Einsatzgebiet ist die Tanzmusik. Der Kaval hat einen höchst individuellen Klang, der sich nach der Höhe dem Flötenklang annähert in tiefen Spielbereich der Klarinette.

Im vorliegenden Satz übernimmt nun auch die Klarinette die Aufgabe des Kaval, sich im Bereich der eingestrichenen Oktave bewegend, was etwa dem unteren Drittel vieler Kavale-Typen entspricht.

Im ersten, meditativen Großabschnitt wiederholt die Klarinette nach Art der Passacaglia ein kurzes Thema von modaler Prägung, wobei sie von anderen Instrumenten kontrapunktiert wird. Kurzzeitig gewinnt das Kontrasubjekt durch aufbäumende Klangparallelen-Führung die Oberhand. Hier kommt zum ersten und einzigen Mal die Piccoloflöte zum Einsatz. Wie gesagt erinnert der Klang des Kaval im hohen Spielbereich an die Flöte, zumal in seiner kleinen einteiligen Bauform, der Swirka. Eben dies symbolisiert die Piccoloflöte.

Im zweiten Abschnitt wandelt sich das Mantra zu einer wilden Tanzmelodie, die die übrigen Instrumente perkussiv begleiten. Durch Verkürzungen, Abschneidungen, Neukombination und dergleichen „stolpert“ das Stück ungestüm und übermütig in den Schluss, Engführung des vormaligen Kontrasubjekts.

VII. Stempede für Fagott Solo (Interludium Nr. 3)

Stampfende Repetitionen des Tons E, durchzogen von virtuosen Linien weiterer Sätze des Quintetts – vornehmlich des Finales –, prägen die Stempede. In die Linienführung eingeflochten auch hier wieder mit einem Thema aus Weißer Schlaf ein Zitat eines gänzlichen außenstehenden Werks. Zweiter Ideenkomplex ist eine sanglich-wiegende Melodie mit aufwärts strebender Tendenz im 12/8-tel-Takt (= „Tempo II“). Ein konträrer, etwas burlesker Abschnitt – ebenfalls im „Tempo II“ – bildet die dritte Einheit, ein kurzer Abschnitt mit schnellen fallenden Intervallen im „Tempo I“ die vierte. Es folgen kurze verarbeitende Abschnitte und das abschließende Choralzitat, die drei Choralvariationen der Sätze 9 bis 11 antizipierend.

VIII. Fughette (Bagatelle Nr. 4)

Die Fughette begegnete bereits als Teil der Ouvertüre, ist im vorliegenden Satz jedoch um einen eigenen Schluss erweitert. Sie ist eine schnelle, spielfreudige Fuge im 5/8-tel-Takt und lieferte einiges thematisches Material für die übrigen Bagatellen.

IX. De vanitate mundi für Klarinette Solo (Interludium Nr. 4)

De vanitate mundi ist eine Bearbeitung des Chorals Ach wie flüchtig, ach wie nichtig von Michael Franck (1609–1667). Die bekannte Melodie wird mit Passagen des Perpetuum Mobile, des Kaval, der Fughette und des Finales verwoben und streift kurz einen Gedanken von In Principio.

Besonders setzt sich der vorliegende Satz mit den Möglichkeiten der künstlichen Polyphonie auseinander und ist auf bis zu drei Systemen notiert.

X. De vanitate mundi. Choralfantasie (Bagatelle Nr. 5)

Die zweite Choralbearbeitung ist für das Tutti fünfstimmig gesetzt. Sie widmet sich fast ausschließlich der bereits zitierten Choralmelodie Michael Francks. Zwei verwandte Teile umrahmen einen Mittelteil, in welchem mit stark forcierten Spieltechniken der zuvor quasi zerschnittene Cantus firmus neu zusammengesetzt wird.

XI. Bergisch–Bergig für Horn Solo (Interludium Nr. 5)

Das Begriffspaar „Bergisch–Bergig“ verweist auf die wie Berggipfel anmutenden Naturtonreihen, die der Interpret bei beibehaltener Ventilstellung zu Beginn des Satzes spielt.

Der Mittelteil ist ein umfangreicher Trauermarsch. Auch dieser ist Bearbeitung der Franck’schen Choralmelodie, so dass sich der Solosatz für Klarinette, die vorausgegangene Choralfantasie und dieser Satz zu einem großen „Choral-Komplex“ verbinden.

Das Stück liegt zusätzlich in einer Fassung für Euphonium solo vor.

XII. Réjouissance (Bagatelle Nr. 6)

Die Réjouissance ist erneut ein sehr virtuoser Satz, in dem fanfarenartige Rufe des Horns, an das Ende von Bergisch–Bergig anknüpfend, schnellen Linien der anderen Instrumente gegenüberstehen. Réjouissance (frz. „Belustigung“) ist ein Tanz, der häufig als Finale von Suiten zu finden ist. Das „Re-“ versinnbildlicht auch die Wiederabkehr von den Stimmungen der Vanitas und Trauermarsch-Sätze.

Nicht ungleich der Kaval-Bagatelle stolpert der Satz seinem Schluss entgegen – wenngleich deutlich heftiger. Ein richtiger Schluss existiert jedoch nicht; vielmehr endet das Stück wie in schneller Bewegung schlicht „abgeschnitten“.


  1. Goethe in einem Brief an Zelter vom 9. November 1829: „Paganini hab’ ich denn auch gehört und an demselben Abend Deinen Brief aufgeschlagen, wodurch ich mir denn einbilden konnte etwas Vernünftiges über diese Wunderlichkeiten zu denken. Mir fehlte zu dem was man Genuß nennt und was bey mir immer zwischen Sinnlichkeit und Verstand schwebt, eine Basis zu dieser Flammen- und Wolkensäule. Wär ich in Berlin, so würde ich die Möserschen Quartettabende selten versäumen. Dieser Art Exhibitionen waren mir von jeher von der Instrumental-Musik das Verständlichste: man hört vier vernünftige Leute sich unter einander unterhalten, glaubt ihren Discursen etwas abzugewinnen und die Eigenthümlichkeiten der Instrumente kennen zu lernen. Für diesmal fehlte mir in Geist und Ohr ein solches Fundament, ich hörte nur etwas Meteorisches und wußte mir weiter keine Rechenschaft zu geben; bedeutend ist es jedoch, die Menschen, besonders Frauenzimmer, darüber reden zu hören: es sind ganz eigentlich Confessionen, die sie mit dem besten Zutrauen aussprachen.“↩︎

  2. Bei der Exegese muss man sich jedoch auch vor Augen halten, dass Abel der erste Mensch, dessen Opfer Gott akzeptierte (vgl. 1. Mose 4,1–16). Barock anmutend kann dies so interpretiert werden, dass der Mensch, auch wenn das irdische Leben ein Opfer in diesem doppelten Sinn ist, Erlösung erlangen kann.↩︎