Die CampanulaBlütenform und kathedraler Klang einer jungen Instrumentenfamilie
Die Entwicklung und Entwickelbarkeit der klassischen Instrumente scheint ob ihrer klanglichen wie bautechnischen Vollkommenheit abgeschlossen. Umso mehr erstaunt es, dass noch heute Instrumentenneuentwicklungen den Kanon klassischer Instrumente erweitern und enorm bereichern.
Ein jüngerer Beitrag zu den Streichinstrumenten ist die Campanula-Familie des Eifeler Instrumentenbauers Helmut Bleffert. Die Entwicklung geht zurück in die 1980er Jahre und hebt an mit dem Bau des Campanula-Cellos. Bis heute ist die Entwicklung der Instrumente nicht abgeschlossen. Bestehende Instrumente werden optimiert und die Familie der Campanula vergrößert. Jüngst wurde die Campanula-Viola entwickelt, die mit den Glockenblumengesängen der Öffentlichkeit vorgestellt wurde.
Form
Bleffert erhielt in den 1980er Jahren den Auftrag, „ein Instrument nach einem Pflanzenbild zu entwickeln“. Er entschied sich für die Glockenblume, die Campanula, die der Instrumentenfamilie ihren klangvollen Namen verleiht. Optisch unterscheiden sich die Campanula deutlich von ihren klassischen Vertretern. In etwa auf Höhe der F-Löcher fehlen die starken Einbuchtungen der Violinen, die recht spitz und kantig auslaufen.
Die sogenannte Oberbacke der Campanula ist vollkommen rund gestaltet und ähnelt der Form nach der Gitarre. (Anders als ihr Äußeres vermuten lässt, ist auch die Violine in ihrem Inneren gitarrenförmig. Sogenannte Klötzchen füllen die Ecken und Kanten und ermöglichen der schwingenden Luft eine ungehinderte Ausbreitung im Innenraum des Instruments.) Die Unterbacke, in etwa also die untere Hälfte des Korpus, läuft zunächst spitz nach außen zu, um sich dann in Form einer Glocke auszuschwingen.
Auch sind die Campanula-Instrumente größer als ihre gleichnamig klassischen Vertreter. Dazu später mehr.
Resonanzsaiten
Die eigentliche Besonderheit, gar das klangliche Wunder dieser Instrumentenfamilie sind die bis zu ein dutzend beim Musizieren in Schwingung versetzten Resonanzsaiten, die unter den Spiel- respektive Melodiesaiten unmittelbar über der Korpusdecke verlaufen.
Resonanzsaiten sind solche, die vom Spieler nicht aktiv angestrichen oder -gezupft werden, sondern die durch das Spiel auf den regulären Saiten – durch Schwingung der Luft und des Instrumentenkorpus – angeregt werden. Eine Resonanzsaite reagiert dann auf eine Spielsaite, wenn
- beide die gleiche Tonhöhe besitzen,
- die Resonanzsaite einem Oberton der Spielsaite entspricht oder
- beide Saiten einen ‚niedrigzahligen‘ Oberton teilen.
Jeder instrumental oder vokal erzeugte musikalische Ton wie auch jeder Ton als Naturphänomen besitzt neben dem auditiv primär wahrnehmbaren Grundton gewissermaßen unzählige Obertöne. Die relativen Lautstärken der Obertöne zum Grundton wie untereinander bestimmen die charakteristische Klangfarbe eines Instruments. Zudem bilden Obertöne wiederum Obertöne – und mehrere Obertöne Kombinationstöne –, so dass ein einziger Ton physikalisch eine schier unfassliche Komplexität aufweist. Lediglich elektronisch erzeugte Sinustöne sind frei von Obertönen.
Weitere Informationen zu diesem Themengebiet finden sich in dem Aufsatz Der Wolf in der Musik.
Häufig werden die Resonanzsaiten auch Obertonsaiten genannt. Je nach Art der Anregung durch die Spielsaiten scheint der Begriff jedoch unscharf. Als Synonyme sind ferner die Begriffe Bordun- und Aliquotsaiten gebräuchlich. Der Begriff „Bordun“ ist hier jedoch irreführend. Bordunsaiten sind solche, die nicht durch Hauptsaiten angeregt mitschwingen, sondern durch einen Mechanismus beständig in Schwingung gehalten werden. Diese Technik kommt bei der Drehleier zum Einsatz, bei der die Saiten durch ein über eine Kurbel gedrehtes Rad angestrichen werden. Der Effekt von Borduntönen lässt sich insbesondere beim Dudelsack beziehungsweise der Sackpfeife studieren. Die Bordunpfeifen werden – sofern sie nicht einzeln stummgeschaltet wurden – pausenlos durch die dem Sack entweichende Luft am Klingen gehalten, nicht jedoch durch die regulär einzelne Spielpfeife angeregt.
Klangeigenschaften und Spielweise der Campanula
Der Klang der Campanula unterscheidet sich deutlich von dem klassischer Vertreter. Er ist unfasslich, metaphysisch, schwebend, ätherisch, besitzt einen silbrigen Glanz. In seinem Nachhall ist der Klang zerbrechlich. Das Hören auf diesen Nachhall führt – bei Musizierenden wie beim Publikum – unmittelbar zur Ruhe. Gleichwohl ist der Klang der Campanula bei entsprechender Spielweise äußerst kraftvoll, was sie von den übrigen europäischen Resonanzinstrumenten – auch dazu gleich mehr – unterscheidet.
Hingegen unterscheidet sich die Spielweise der Campanula zunächst wenig von der auf ihren klassischen Vertretern. Jedes Instrument besitzt die vier klassischen in Quinten gestimmten Spielsaiten. Dieser Umstand macht den Umstieg vom klassischen Instrument deutlich einfacher als beispielsweise der Wechsel von der klassischen zur Viola d’amore. Auch ist es Anfängern leichter möglich, einen wohlklingenden Ton zu erzeugen.
Bereits im piano ist der Klang der Glockenblumeninstrumente recht kraftvoll, erzeugt Schwingungen, die den Raum vollständig erfüllen und besitzt selbst im Freien eine große Durchsetzungskraft. Die Differenzierungsmöglichkeiten über den gesamtdynamischen Ambitus hinweg werden hierdurch etwas geringer. Bei größter Lautstärke können zudem die Resonanzsaiten leicht gegeneinander schlagen, was einen scheppernden Effekt zur Folge hat.
Da beim optimalen Campanula-Klang beständig zahlreiche Aliquotsaiten resonieren, ist ein stärkeres Vibratospiel vonnöten, soll dieses sich gegen den ‚geraden‘, unvibrierten Klang der Resonanzsaiten durchsetzen.
Die kristallinen oder flötenhaften Flageoletttöne wirken bei der Campanula besonders stark und sind effektvoll einsetzbar.
Schließlich sind die Campanula größer als ihre klassischen Vorbilder, die Griffweite folglich etwas erhöht. Auch dies erfordert eine Ein- und Umgewöhnung beim Wechsel vom klassischen Instrument.
Der große, resonierende, ätherische, chorische Klang verleiht der Campanula einen völlig eigenen, sakralen Charakter. Die Bratschistin Verena Wehling spricht vom „inhärenten Nachklang einer Kathedrale“. Andere charakterisieren die Campanula schlicht als „Kathedrale der Instrumente“.
Vorbilder der Campanula
Der Entwicklung der Campanula vorausgegangen war die Entdeckung eines Instruments. Helmut Bleffert fand es in einem Fachgeschäft; doch waren Name und Spielweise völlig unbekannt. Das Instrument wies zahlreiche Resonanzsaiten auf und wurde neben den klassischen abendländischen Streichinstrumenten aus der Familie der Violinen Vorbild für die Campanula-Familie. Bei dem unbekannten Instrument handelte es sich um die Sarangi, die in Indien, Nepal und Pakistan weit verbreitet ist. Sie besitzt drei Spielsaiten – wie im übrigen auch die ältesten Violinen –, die mit dem Bogen gestrichen und – unter Verwendung eines starken Vibratos – durch Berühren mit der Fläche des Fingernagels verkürzt werden. Meist 35 Resonanzsaiten, in Gruppen unterschiedlicher Funktionalität eingeteilt, verleihen der Sarangi ihren charakteristischen, der menschlichen Stimme ähnelnden Klang, der äußerst farbig-differenziert gestaltbar ist. Mit „hundert Farben“ ließe sich der Instrumentenname frei ins Deutsche übertragen.
Weitere Instrumente mit Resonanzsaiten
Gleich mehrere Saiteninstrumente mit zusätzlichen Resonanzsaiten sind auf dem indischen Subkontinent beheimatet. Hierzu zählen die Esraj, die bekannte Sitar, die Sarod und die Mohan vina oder Mohan veena.
Auch auf dem Balkan und im slavischen Sprachraum sind mehrere klassische Resonanzinstrumente zu finden.
Und das Abendland und der hohe Norden? Resonanzinstrumente finden sich offenbar primär in nordischen Ländern. Hierzu gehören die norwegische Hardangerfiedel, die Nyckelharpa Schwedens und die walisische Crwth. Die These der Entwicklung von Resonanzinstrumenten zum Spiel unter freiem Himmel gewinnt an Evidenz.
Im deutschen Sprachraum sind die Viola d’amore und das Baryton die bekanntesten Instrumente mit Resonanzsaiten. Die Viola d’amore verdankt dem Hamburger Musiker Johann Ritter ihre früheste Erwähnung in einem Brief des Jahres 1649. 125 Jahre zuvor wurde erstmals die Violine erwähnt.
Im Gegensatz zur Campanula-Viola besitzt die Viola d’amore mehr Spielsaiten als die klassische Viola. Meist sind es fünf bis sieben und ebensoviele Resonanzsaiten. Die Griffweise unterscheidet sich somit von der klassischen Viola, und die Umstellung erfordert mehr Zeit und Mühe.
Auch ist der Klang der Viola d’amore feiner und leiser, weniger durchsetzungsstark als der der Campanula. Biber, Telemann und Vivaldi sind einige der bekannten Komponisten, die Konzerte oder Sonaten für das Instrument schrieben. Bach verwendet zwei Violen d’amore in der Johannespassion und setzt sie in zwei seiner Kirchenkantaten ein. Das Leipziger Bach-Museum wie das ebenfalls in Leipzig beheimatete Musikinstrumentenmuseum, unmittelbar an Bachs ursprünglicher Begräbnisstätte gelegen, beherbergen auch diese Instrumente. Obwohl die Viola d’amore ein historisches Instrument ist, haben einige Komponisten in jüngerer Zeit wieder für sie komponiert. Auch im Kontext der historisch informierten Aufführungspraxis erfreut die ‚Liebesbratsche‘ sich steigender Beliebtheit.
Dieses Schicksal ist dem Baryton hingegen nicht vergönnt. Entwickelt im frühen und vornehmlich gespielt im 18. Jahrhundert ist dieses Instrument der Vergessenheit anheim gefallen, und dies obwohl Joseph Haydn eine große Anzahl an Werken für oder mit Baryton verfasste und Leopold Mozart in seiner heute noch bedeutenden Violinschule seinen Klang als „anmutig“ lobt.
Das H’arpeggione – nicht zu verwechseln mit dem Arpeggione, für das Schubert eine bekannte Sonate schrieb –, das patentierte Bazantar von Mark Deutsch und einige Instrumente Yuri Landmans sind weitere junge Entwicklungen auf dem Gebiet der Resonanzinstrumente.
Die Familie der Campanula ist mit dem ihr eigenen, wundervollen Klang eine große Bereicherung unter den Streichinstrumenten. Zahlreiche Musiker spielen diese Instrumente neben ihrem klassischen Instrument oder kaprizieren sich vollumfänglich auf das Campanula-Spiel. Ein modernes Musikleben, das oftmals ein Begehen der Nebenwege fordert und wünschenswerterweise gleichfalls fördert, steht diesem wundervollen Instrument mit großer Aufgeschlossenheit gegenüber. Und so darf gehofft werden, dass sich die Campanula als ‚klassisches Sonderinstrument‘ in den Kanon der Streichinstrumente einreiht und ihren Platz behauptet.