Einführung in die Glockenakustik
Nicht erst J. C. Friedrich von Schillers Das Lied von der Glocke macht uns bewusst, dass uns Glockengeläut das gesamte (christliche) Leben hindurch – von der Geburt bis zur Grablegung – begleitet; doch gerade dieses so vertraute akustische Phänomen weist zahlreiche spezifische Eigenheiten auf und hebt so die Glocke von allen übrigen Instrumenten ab.
Ein ‚Einzelton‘ eines jeden Musikinstruments setzt sich aus unendlich vielen unterschiedlichen Teiltönen zusammen, unter denen der Grundton (= 1. Partialton) auditiv am stärksten wahrnehmbar ist und folglich als wichtigster Klangbestandteil dem Ton seinen Namen verleiht, z. B. „c“. Im Klangspektrum der Glocke jedoch fehlt gerade dieser Grund- bzw. Schlagton (Nominal), auf den sie gestimmt wurde; das menschliche Gehör ist allerdings in der Lage, diesen fehlenden Nominal als Residualton vom klingenden Obertonspektrum (s. u.) abzuleiten, so dass er subjektiv wahrgenommen wird, obwohl der Ton faktisch nicht erklingt und physikalisch nicht nachweisbar ist.
Über dem Nominal der Glocke klingen unendlich viele weitere Töne, die so genannten Obertöne, mit.
(Obertonreihenausschnitt über dem Ton C. Manche Obertöne sind mit der 12-stufigen diastemischen Notationsmethode nicht adäquat darstellbar (Einkreisungen), klingen etwas tiefer oder höher, woraus auch unterschiedliche Notationen der Reihe resultieren. Der auf den heutigen Hörer mitunter falsche Klangeindruck der Obertonreihe ist jedoch der eigentlich richtige weil natürliche (siehe hierzu „Der Wolf in der Musik“). Die genaue Frequenz des Tons C entspricht bei a1=440 Hz 65,41 Hz.)
Das Frequenzspektrum eines jeden Tons eines Instruments setzt sich folglich zunächst aus Grundton und Obertönen zusammen, wobei es sich jeweils um Sinustöne handelt. Sinustöne werden mathematisch durch Sinus-Kosinus-Funktionen beschrieben und weisen keine Obertöne auf, weshalb der Klang des einzelnen Sinustons, der sich nur elektronisch erzeugen lässt (lediglich der Stimmgabelton nähert sich der Sinusschwingung), als leblos, hohl und kalt aufgefasst wird.
Erst der genaue Aufbau der Obertonreihe über einem gespielten Ton bestimmt den Klang eines Musikinstruments sowie sämtlicher anderer Klangquellen. Vor allem die Dynamiken der Partialtöne in Relation zueinander spielen hier eine entscheidende Rolle. Instrumente, die Töne eindeutiger Tonhöhe erzeugen (z. B. Chordophone und Aerophone) weisen Frequenzspektren auf, deren Obertöne idealisiert ganzzahlige Vielfache der Frequenz des Grund- respektive 1. Partialtons sind (harmonische Obertonreihen, siehe Grafik). Andere Instrumente (z. B. gewisse Schlaginstrumente) weisen komplexere Frequenzspektren auf, was sich in komplexen mathematischen Brüchen ausdrückt, da es an einer konstanten Differenzfrequenz mangelt. Bei diesen Instrumenten überwiegt der durch unharmonische Teiltöne bedingte Geräuschanteil, wogegen ein eindeutig erkennbarer Grundton in den Hintergrund tritt. Diese Perkussionsinstrumente nennt man „nicht gestimmt“ (z. B. Tom Tom, Tamtam, Triangel), die übrigen gestimmt (Pauken, Gong u. a.). Dass der Übergang zwischen gestimmter und nicht gestimmter Perkussion fließend ist, zeigt nicht zuletzt der Glockenklang, der zahlreiche nicht-harmonische Obertöne beinhaltet, was den Klang unbestimmt und schwebend erscheinen lässt, ohne dass der Geräuschanteil jedoch überwöge.
Prinzipiell scheint es technisch leicht möglich, Musikinstrumentenklänge elektronisch zu imitieren, da sich diese durch eine Kombination von Sinustönen leicht nachbilden lassen; dem stehen jedoch die komplexen und stetigen Änderungen der Frequenzspektren (Farbmodulation) während des Einschwing- und Ausklingvorgangs entgegen. Die Bedeutung dieser Vorgänge mag ein rückwärts abgespielter Ausschnitt eines Klavierstücks verdeutlichen: Das Klangresultat entspricht nicht lediglich der Krebsform des Musikstücks mit an der Zeitachse gespiegeltem dynamischen Verlauf (also Anschwellen eines jeden Tons), sondern nähert sich – vor allem in höheren Oktavlagen – dem Klang einer elektronischen Orgel an. Auch die Einschwing- und Ausklingvorgänge sind also an der x-Achse gespiegelt, während das Obertonspektrum hingegen in jedem Augenblick gleich bleibt.
Analog zu den Obertönen existieren bei Glocken und Gongs (bei den meisten anderen Instrumenten nicht!) Untertöne, die ebenfalls dem Frequenzspektrum zuzurechnen sind. Bei manchen Glocken wirken die Untertöne in Relation zum (nicht real klingenden) Nominal und dessen Obertönen auffällig laut, z. B. bei einigen Glocken von St. Kunibert, Köln.
Da sich Glocken während der Klangerzeugung bewegen, hat ein weiteres akustisches Phänomen entscheidenden Einfluss auf deren Klang: der Dopplereffekt. Bekannt ist dieser Effekt vor allem allem bei Martinshörnern, die von sich bewegenden Fahrzeugen aus erklingen. Nähert sich ein Krankenwagen mit eingeschaltetem Martinshorn dem (unbewegten) Hörer, klingen die Töne höher, während die Tonhöhe abnimmt, wenn sich das Fahrzeug entfernt. Dieses Phänomen lässt sich am angeführten Beispiel des Krankenwagens leicht erschließen: Nehmen wir an, das Martinshorn erzeugt den Kammerton a1 mit einer Schwingung von 440 Hertz. Das bedeutet, dass die Wellenberge bzw. Hochpunkte der angenommenen Sinusschwingung im Abstand von 1/440-tel Sekunde aufeinander folgen. Bewegt sich die Klangquelle nicht und nehmen wir eine ungefähre Schallgeschwindigkeit von 330 Metern in der Sekunde an (relativ zur Erdoberfläche), beträgt die Wellenlänge, also der Abstand der einzelnen Wellenberge, 0,75 Meter. Bewegt sich hingegen der Krankenwagen mit dem Martinshorn als Klangquelle auf den Hörer zu, wird die Wellenlänge um den Weg, den der Krankenwagen in 1/440-tel Sekunde zurücklegt, verkürzt. (Die Geschwindigkeit des Krankenwagens und die Entfernung von Schallquelle und -empfänger zueinander sind hier also von Bedeutung.) Entfernt sich der Krankenwagen mit gleicher konstanter Geschwindigkeit, vergrößert sich die Wellenlänge analog um diese Strecke. Bewegen sich Hörer und Klangquelle mit gleicher Geschwindigkeit in die selbe Richtung, wird der Effekt aufgehoben und der Hörer vernimmt den Kammerton a′ (Schallquelle und Empfänger sind relativ zueinander unbewegt!). Der Dopplereffekt der schwingenden Glocke ist mit dem genannten Beispiel vergleichbar; doch entsteht durch die völlig andere Bewegungsform – also die Pendelbewegung – eine Art „Wah-Wah“-Effekt (vgl. auch Leslie-Effekt). Der Klang einer fixierten Glocke mit schwingendem Klöppel ist wiederum ein völlig anderer.
Im Gegensatz zum Obertonphänomen, welches alle Musikinstrumente aufweisen, sind die auftretenden Untertöne und der Dopplereffekt glockenspezifisch. Auch die sehr viel komplexere Frequenzmodulation verleiht Glocken ihren typischen Klang. Diese lässt sich mit mathematischen Formeln leicht ausdrücken; eine detaillierte Erklärung würde jedoch den Rahmen einer kleinen Einführung in das Klangphänomen sprengen. Eine kommentarlose Formelsammlung ist gleichfalls wenig sinnvoll.
Läuten nun zwei Glocken gleichzeitig, entstehen Töne, die im Frequenzspektrum keiner der beiden Glocken vorhanden sind. Im einfachsten Fall wird der so genannte Kombinationston der Differenz der Frequenz der beiden Nominale wahrgenommen. Jedoch ist zu beachten, dass die Sinustöne jeder einzelnen Glocke untereinander (subjektiv kaum bzw. überhaupt nicht wahrnehmbare) neue Kombinations- und Obertöne bilden, ebenso wie die Summe der Sinustöne der beiden Glocken untereinander. Wahrscheinlich bilden die Kombinations- und Obertöne untereinander wiederum Sinustöne usf., was vermutlich eher mathematisch als akustisch relevant sein mag.
Die Nominale der fünf Glocken des klangschönen Geläuts der Köln-Merheimer Gereonskirche (Christus-, Heilig Geist-, Marien-, Joseph- und Gereon-Glocke) lauten auf die Tonhöhen e′, fis′, gis′, h′, cis″ (die wichtigsten Töne von der Unteroktave bis zur Doppeloberoktave+Quarte sind maximal acht Sechzehntel des temperierten Halbtons ‚verstimmt‘) und sind somit als Veni, Creator Spiritus-Geläut zu klassifizieren, was dem Tonvorrat einer (leittonfreien) pentatonischen Tonleiter entspricht. Es ist spannend zu beobachten, wie viele unterschiedliche Töne man entdecken kann, selbst wenn nur wenige der Glocken zur Heiligen Messe oder zum Angelus-Gebet einladen, und faszinierend, dass die Glocken trotz ihrer Größe und ihres Gewichts in Alt-Sopran-Lage gestimmt sind, gleichzeitig jedoch – bedingt durch die dargestellten Klangphänomene der Unter- und Kombinationstöne – einen tief-sonoren Klangeindruck evozieren.
Mit einem Geläut mit bis zu fünf Glocken lassen sich ca. 120 bekannte Läutemotive realisieren, die in umfangreichen Läuteordnungen festgelegt werden und unterschiedliche Bedeutungen haben – Jagdhornsignalen vergleichbar. Heute rekurriert man meistenteils auf wenige Standardsignale, obwohl der Einsatz weiterer Läutemotive musikalisch wie liturgisch eine große Bereicherung darstellen würde.