GlockenblumengesängeFür Viola und Harfe
Die Glockenblumengesänge sind ein opulentes Kammermusikwerk für Viola und Harfe. Virtuose und lyrische Passagen, prächtige ‚Klangwolken‘, schwebende und glockenartige Klänge wechseln einander ab.
Das kammermusikalisch-dialogische Spiel beider Instrumente wird durch drei Solokadenzen (zwei der Bratsche, eine Kadenz der Harfe) durchbrochen, bevor sich beide Instrumente zum schwebenden Finale wieder vereinen.
Die einzelnen Sätze
Der erste Satz ist Tribut und Hommage an die Natur – an die geistdurchwirkte natura naturans, und das Geschaffene der natura naturata, sich in der Glockenblume wie dem neuen Instrument als partes pro toto manifestierend. Die musikalische Tonsignatur des Instruments, das Campanula-Motiv, versinnbildlicht dies.
Wir hören Glockenmotive und arpeggierte Akkorde der Harfe, schnell-virtuose und durch permanente Wechsel der Taktart geprägte Abschnitte, entfernte Anklänge an Jazz, einen von der Viola weitgehend solistisch geprägten Abschnitt, das aus dem Campanula-Motiv erwachsende Campanula-Thema, klangprächtig von der Harfe untermalt.
Campanula-Thema und -Motiv durchziehen im Folgenden omnipräsent das Werk in ungezählten Ab-, Um- und Verwandlungen, der jeweiligen poetischen Absicht der Musik folgend. Die Schlussphase des Kopfsatzes mit ihren romantisch anmutenden Akkordfolgen kombiniert sie nun.
Der zweite Satz ist eine Solokadenz für die Harfe. Ein ruhiger Abschnitt antizipiert und verarbeitet ein Hauptmotiv, das im Finale größte Bedeutung erlangt. Zu diesen ruhigen Passagen wird die erste Strophe des Gedichts Hartmut Oliver Horsts „An die Stille“ gesprochen. Dem Vortrag der zweiten Strophe schließt sich eine kurze virtuos-flirrende Passage an. Der letzte Vers des Gedichts, „Die Stille träumt, denn sie ist Lied“, wird von kurzen aufblühenden Akkorden der Harfe behutsam gegliedert.
Der Gesang „Aer enim volat“ („Die Luft nämlich fliegt“) der Hildegard von Bingen (siehe auch Sonate für Violine solo) liegt dem dritten Satz, „An den Abendwind“, zugrunde. Die anspruchsvolle und ein großes Repertoire virtuoser Spieltechniken vorstellende Kadenz der Viola verarbeitet vergangene und abermals in die Zukunft, zum Finalsatz weisende Motive.
Heiter präsentiert sich der vorletzte vierte Satz. Ein weiteres Gedicht von Hartmut Oliver Horst, „Glockenblume“, wird in diesem vorletzten Satz rezitiert. Verspielte Motive charakterisieren die erste Abteilung. In der zweiten wandeln sich Ganzton- zu Halbtonfolgen in rasendem Tempo. Dies überrascht umso mehr, da Chromatik der Harfe naturgemäß fremd ist. Nur durch entsprechende Pedalisierung lässt sich eine umfangreiche Passage rein chromatisch realisieren. Ob abstrakt zu verstehen oder Alpen-Glockenblumen einen Sturm erleben, sei dahingestellt.
Der Finalsatz, „An die Schönheit“, ist erneut ein sehr umfangreicher und vielschichtiger und bildet mit seinen Ausmaßen ein Gegengewicht zum ersten Satz der Gesänge. Dem Satz vorangestellt ist eine weitere Solokadenz der Viola, die nahtlos in die dialogischen Teile übergeht. Einem einfachen Glockenmotiv entwächst ein opulent-akkordisches Hauptthema, das uns – zuvor in Andeutung verharrend – ab dem zweiten Satz begleitete. Über groß gebrochenen Akkorden der Harfe singt die Viola lange Linien. Der Topos der Schönheit wird hierbei durch das musikalische Idiom der Oktave, dem reinsten Intervall überhaupt, hör- und erlebbar gemacht. Auch das vollständige Campanula-Thema begegnet erneut. Unerwartet ein Abschnitt strenger Polyphonie, ein kurzes Fugato. Hier – wie im gesamten Werk – begegnen im Goethe’schen Sinne Natur und Kunst einander; eine Synthese von „geistdurchwirkter Natur und beseelter Kunst“ nennt es Hartmut Oliver Horst.
Ätherische, schwebende gleichwie virtuose Passagen der Harfe, die hier oftmals führend eingesetzt ist. Dann Wiederaufnahme des Beginns des Werkes. Eine zyklische Abrundung wird vorbereitet. Erneut Oktavlinien der Viola über Harfenklangwolken. Schließlich sinkt die Viola zu ihrem tiefsten Ton, dem kleinen c, herab – einem Ton von weich-herber Schönheit und dem Geschmack von Torf.
Rede Manfred Osten
Anlässlich der Uraufführung der Glockenblumengesänge hat der bedeutende Intellektuelle und Goethe-Forscher Dr. Manfred Osten den Einführungsvortrag gehalten und Goethe in seiner philosophischen und naturwissenschaftlichen Betrachtung der Pflanzen auch in der Beziehung zur Glockenblume mit der Komposition verbunden.
Hierzu schreibt Hartmut Oliver Horst:
Wie in einer Synthese verschmelzen die Glockenblumengesänge „Natur und Kunst“ zu einem Einklang, den Goethe nicht nur geistig erfasste, sondern im „naturfrommen Lied“ einer natura naturans (im Sinne Spinozas) auch hörte, indem er die Pflanzen und am Beispiel der Glockenblume diese in einem universalen Zusammenhang betrachtet als Symboldeutung eines „Schöpfungs-Liedes“, das eine metaphysische Teilhabe am Sein ausdrückt, einer uns liebend umfangenden Natur wie es uns Goethe in einem Gedicht sagt:
Ich weiß, daß mir nichts angehört
Als der Gedanke, der ungestört
Aus meine Seele will fließen,
Und jeder günstige Augenblick,
Den mich ein liebendes Geschick
Von Grund aus läßt genießen.
Dieses „liebende Geschick“ deutet Goethe als die uns umfangende Liebe der natura naturans, die den Menschen erschafft und ihm – und allem Sein – alles schenkt, seine Gestalt, seine geistigen Fähigkeiten, seine seelische Substanz – all das ist Geschenk einer uns liebend erschaffenden Schöpfung, ein Geschenk, das auch aus diesem „naturfrommen Lied“ der Blumen zu uns tönt („Gott liebt die Menschen in den Blumen“, wie Goethe es sagt), und dieser Einklang, in musikalische Eingebung gebunden, tönt auch auf in den Glockenblumengesängen, die darin dem „naturfrommen Liede“ begegnen, einem Lied, das Goethe gehört hat, und deshalb auch hat er die Glockenblumengesänge des Komponisten Markus Schönewolf längst vorweg gehört – wie es der Goethe-Forscher und profunde Kenner der goethischen Geisteswelt, Manfred Osten, in seiner Rede zur Uraufführung der Glockenblumengesänge ausführte – denn hat nicht gerade Goethe die ins Unendliche transzendierende Schöpfungswirklichkeit – auch in der Kunst – als etwas Gleichnishaftes verstanden und gedeutet!