Dem Liedsänger ein LiederzyklusEine Hommage à Fischer-Dieskau in Tönen
Beitrag aus der Jahrhundert-Festschrift für Dietrich Fischer-Dieskau
Herausgeber: Hartmut Oliver Horst, Dr. Manfred Osten, Markus Schönewolf
„Verstehen und dann fundiertes Erleben“ – Credo des Ausdrucksgenies Dietrich Fischer-Dieskau, der emotio stets auf ratio zu gründen wusste und zugleich diese beiden Wesenheiten ästhetischen Ausdrucks in seiner Kunst zu harmonisieren verstand.
Tiefes Verstehen der Musik und der ihr zugrunde liegenden Texte – lyrischer, dramatischer oder epischer Natur – befähigte Fischer-Dieskau zu einer aus solchem Verstehen gespeisten Erlebnisfähigkeit, die, wie Jean Cocteau es ausdrückte, der Kunst des Komponierens gleichzusetzen sei, die sich durch die Kunst Dietrich Fischer-Dieskaus im Nachempfinden innerer Gefühls- und Geisteswelten großer Komponisten auf das Publikum übertrug. Davon geht die suggestive Kraft seiner Interpretationen aus.
Heißt dies nicht im Umkehrschluss für den Komponisten, dass beim Komponieren das Erleben vorauszugehen hat, ein inneres Hören der ins Sein zu setzenden Musik, das Erhören ihres Wünschens und Wollens? Nicht zu früh darf der Intellekt sich des Komponierens bemächtigen, der bei geduldiger und präziser Ausarbeitung früh genug gefordert ist.
Wenn ihr’s nicht fühlt, ihr werdet’s nicht erjagen,
Wenn es nicht aus der Seele dringt,
Und mit urkräftigem Behagen
Die Herzen aller Hörer zwingt.
Was Goethe Faust hier über die Kunst der Rhetorik deklamieren lässt, ist für jene des Komponierens wie des nachschaffenden Interpretierens gültig. So wie Faust hier bezeichnenderweise zur Pluralform wechselt, sich gleichsam vom Famulus Wagner ab- und dem Allgemeinen zuwendet, ist diese Aussage als „ästhetischer Imperativ“ (Peter Sloterdijk) im Allgemeinen und – im Spiegel des Eingangszitats – der Kunst Fischer-Dieskaus im Besonderen zu verstehen. Und wenn Beethoven seine Missa solemnis op. 123 überschreibt mit jenen bekannten Worten „Von Herzen — Möge es wieder — Zu Herzen gehn!“, löst der Komponist eben das ein, was Faust im weiteren Verlauf seines Monologs anmahnt:
Doch werdet ihr nie Herz zu Herzen schaffen,
Wenn es euch nicht von Herzen geht.
Arthur Schopenhauer führt aus:
Ethik kann so wenig zur Tugend verhelfen, als eine vollständige Ästhetik lehren kann, Kunstwerke hervorzubringen.
Fischer-Dieskau jedoch vermochte im stetigen Übersteigen reiner Faktizität, beides auf sich zu vereinen: menschliche und künstlerische Größe. Davon zeugen viele Worte der vorliegenden Festschrift.
Wenn der Dirigent Wilhelm Furtwängler für Fischer-Dieskau reklamiert, er habe bereits als junger Mensch nicht nur zu hoher künstlerischer Reife, sondern zu früher Vollendung gefunden, scheint dies zu bestätigen, was Aristoteles – und in seiner Nachfolge zahlreiche weitere Denker – für den Künstler, das Genie, postulierte, nämlich dass seine Seele das vollendete Werk von Anbeginn in sich trage und dieses durch Reflexion und Aktion nur noch freizulegen sei, vom Philosophen umschrieben mit dem Kunstwort Entelechie (entelecheia bedeutet in etwa: ein Ziel in sich tragend). Während bei der biologischen Entelechie das Resultat zielgerichteter Entwicklung im Geschöpf angesiedelt ist, ist dieses im Falle des Kunstwerks – zunächst – außerhalb des Werkstücks, in der Künstlerin oder im Künstler selbst, zu finden. Auch Worte wie „Entwicklung“ und mehrerer seiner Synonyme umschreiben diesen Gedanken, tragen diese doch die Semantik eines ‚Aus-‘ oder ‚Ent-wickelns‘ eines bereits Vorhandenen in sich.
So bei Michelangelo, dem nachgesagt wird, er habe die vollendete Plastik bereits im rohen Stein sehen können. Dies umso faszinierender im Falle des David, der aus einem durch andere Künstler (Agostino di Duccio, später Antonio Rossellino) ‚ver-hauenen‘ Stein derart geschlagen wurde, dass Michelangelo aus der Rückseite des ‚Ur-David‘ die Vorderseite seiner vollendeten Skulptur schuf, ihre Proportionen unter Berücksichtigung der erwartbaren Untersicht berechnend, war der vorgesehene Standort doch die Chor-Außenseite des Doms von Florenz.
Doch wohnt nicht auch dem sich zum Kunstwerk verdichtenden ‚Material‘ selbst – dem Marmor, den sich durch Mischung und Komposition zum Bild verbindenden Farben, dem goldenen Schnitt wie dem goldenen Winkel, den musikalischen Intervallen – Schönheit inne – und in solcher Schönheit begründetes endogenes Wollen? Wenn der römische Architekt Vitruv – und seine Theorie ins Kunstwerk setzend: Leonardo – Schönheit in Beziehung setzt zur Proportion, gilt für die musikalischen Intervalle ein Gleiches: Je einfacher ihr mathematisches Teilungsverhältnis, ihre Proportion, desto reiner und natürlicher ihr Klang. So lautet das Teilungsverhältnis der Oktave 1:2, jenes der Quinte 2:3, der Quarte 3:4 usf. Das Teilungsverhältnis jener Intervalle, die nicht Teil der Naturtonreihe sind, wird durch die Addition (und ggf. ‚Herausrechnen‘ der Oktav-Versetzung) ermittelt, und zahlreiche Intervalle erlauben mehrere Ableitungen. Und so sind die mathematischen Teilungsverhältnisse der musikalischen Intervalle eben nicht bloße phänomenologische Erscheinung, sondern Ausdruck und Gestalt geistdurchwirkter Natur, ihre Widersprüchlichkeiten zugleich in sich tragend, scheinen doch die reinsten Intervalle Oktave und Quinte sich gegenseitig auszuschließen (die Schichtung von 12 Quinten ergibt mathematisch ein anderes Intervall als die Schichtung von 7 Oktaven, anders als es auf einem Tasteninstrument scheint) und führt doch die Halbierung der hochreinen Oktave ausgerechnet zum ‚Teufels-Intervall‘, dessen Auflösung – seiner teuflischen Natur folgend und anders als bei allen anderen Dissonanzen – nicht eindeutig ist.
Wie Architektur ab dem frühen 19. Jahrhundert oftmals als „gefrorene Musik“ bezeichnet wird, lässt sich das Kunstwerk allgemein – Werner Heisenberg folgend – im Sinne (mani-)fest gewordenen Geistes verstehen.1
Wie beglückend und schön und von welch ‚metaphysischer Qualität‘, wenn das Kunstwerk einer Komposition durch eben jenes Ausdrucksgenie Dietrich Fischer-Dieskau im Moment des Interpretierens nach- und neu-geschaffen und zur Vollendung geführt wird, um im gleichen Moment, im „höchsten Augenblick“ (Faust II), zu vergehen.
Doch wie kann – und darf – ein Komponist sich der Größe eines so außergewöhnlichen Sängers wie Dietrich-Fischer-Dieskau nähern? „Durch die Komposition eines Zyklus von Orchesterliedern“ war meine Antwort, und so durfte ich die Lieder im Entgleiten in großer Bewunderung und Verehrung der Kunst dieses Sängers in Wort und Musik verfassen, auch als Dank für seinen Einsatz für die jüngere Musik, der sich der Sänger in hohem Maße verschrieb – aus einem Impetus ästhetischen und ethischen Wollens.
Der dem Jubilar gewidmete Liederzyklus – ein opulentes und umfangreiches Werk für Bariton, großes Orchester, Fernorchester, Stimmen aus der Ferne und einen Knaben-Schauspieler – spürt Stationen menschlichen Fühlens und Erlebens auf sensitive wie intensive Weise nach – dem Leben und Entgleiten – und weist in den „Gesprächen“ des lyrischen Ichs mit seiner Seele, seiner Erweckung, Transzendierung, Erhebung und der „Verklärung im Sange“ über den Horizont menschlicher Erfahrbarkeit hinaus.
Aus Urweisheiten – den Texten der Hochkultur des Alten Ägyptens wie des Alten Testaments – sich speisend, aus Zitaten der großen Philosophen und Mystiker, älterer wie jüngster Dichtung, fügt sich das Libretto zu einer nacherlebbaren Handlung, die das Publikum mitnimmt auf die Reise des Solisten, bis zu einem Sich-Auflösen von Raum und Zeit.
Dieser Zyklus, der Lyrisches, Dramatisches, Episches, auch Sinfonisches und Szenisches vereint, richtet sich, die Grenzen formaler Gattungen umspannend, an eben jenen großen Sänger, der all diese Gattungen beherrschte, und dem das Werk zu widmen mir freudige Verpflichtung war.
In der Schlussszene übernimmt der Knabe – hier bei seinem zweiten Auftritt – den Platz des Sängers „und besieht – regungslos verweilend – mit festem Blick das Publikum“, so die Regieanweisung. In mannigfacher Weise kann dies interpretiert werden, zuvorderst als Fortleben und -wirken in Kunst und Ewigkeit.
Eine weitere Sichtweise mag im Licht des Wirkens und Nachwirkens Fischer-Dieskaus insinuiert sein:
Wenn Jörg Königsdorf in seinem in dieser Festschrift veröffentlichten Aufsatz schreibt, es sei die „vermutlich […] schönste Würdigung, die sich Dietrich Fischer-Dieskau selbst gewünscht hätte“, dass sein Erbe von einer „beachtlichen Zahl von Schülern“ weitergetragen und fortentwickelt wird, mag der Knabe Pars pro Toto solchen Vermächtnisses sein.
Und so schließen die Lieder im Entgleiten mit den (Rilke abgewonnenen) Worten – und im Einbezug des Laureaten Dietrich Fischer-Dieskau:
„Gesang ist Ewigsein“.
Die weithin bekannte Metapher der Architektur als gefrorene Musik lässt sich ab 1803 nachweisen und wird in der Neuen allgemeinen deutschen Bibliothek mit Friedrich Schlegel in Verbindung gebracht, wenngleich nicht eindeutig nachgewiesen kann, ob Schlegel oder sein Umfeld den Aphorismus geprägt hat. Die wenig ältere Variante der „erstarrten Musik“ geht ab dem Wintersemester 1802/1803 auf Friedrich Wilhelm Joseph Schelling zurück, der sie in seiner in Jena gehaltenen Vorlesung Philosophie der Kunst einführte und folglich mutmaßlicher Impulsgeber dieser kunst-philosophischen Idee ist.↩︎