Sucht die Hütten, stürmt die Konzertsäle!
Es werden der Möglichkeiten, die eigene Kreativität anzuzapfen, sich dem Unterbewussten zu öffnen, viele aufgezeigt; doch wie ein roter Faden zieht sich eine Technik – oder besser: eine Haltung – durch die Kunstgeschichte. Viele junge Künstlerinnen und Künstler zieht es in die angesagten Künstlerviertel großer Städte, womöglich ins Ausland, sie üben sich im regen Austausch, ihre Ideen sich gegenseitig befruchtend, nutzen lokale Kultureinrichtungen und Fördermöglichkeiten, interessiertes Publikum ist vor Ort. Doch große Kunst entsteht – in der Stille.
Viele bedeutende Künstler, auch Wissenschaftler, betonen dies, darunter zuvorderst die bis zur Weltflucht Introvertierten – Trakl, Kafka –; doch es erstaunt besonders, wenn die das Leben, die Gesellschaft, den Ruhm, die Frauen liebenden Künstler – Picasso, Mozart – den Wert der Einsamkeit, der Stille für das eigene Schaffen hervorheben.
Fraglos entwickeln sich Ideen durch direkten Austausch. Kleist hat darauf verwiesen, dass sich Lösungen allein dadurch finden lassen, dass man Freunden von seiner Unternehmung berichtet. Die endgültige Ausformung eines Gedankens, das Heraustreiben eines Werks aus kleiner Keimzelle ist wohl dem Rahmen der Klausur vorbehalten.
In der Einsamkeit auf Schloss Esterházy, umgeben von burgenländischer Sumpflandschaft und für das 18. Jahrhundert weit (genug) weg von Wien hat der große Haydn fast sämtliche seiner zahlreichen Werke komponiert und doch – gerade deshalb – sich wie wenige Andere auf der Spielwiese des Experimentellen ausgelassen.
Sein Werk ist witzig, launisch, unvorhersehbar, progressiv und unendlich abwechslungsreich, es sprüht und funkelt und illustriert. Daher ist die Aufführung seiner Werke Orchestern, Dirigenten, Kammermusikern Herzensangelegenheit, oftmals selbst mehr als die der Werke des Titanen Beethoven oder den nachgeborenen Riesen der Romanik, die Beethoven fürchteten.
Andere Schriftsteller und Komponisten haben sich kleine Arbeitshütten und -häuschen bauen lassen, die – in einiger Entfernung zum Wohnhaus gelegen – eine ablenkungsfreie Beschäftigung mit dem künstlerischen Gegenstand erlauben. Besonders bekannt sind die „Komponierhäuschen“ Gustav Mahlers und Edvard Griegs.
Einsamkeit ist heute durchaus schwer zu finden – oft mangelt es auch am Suchen –, viele Künstler kennen den horror vacui, – „tiefe Einsamkeit ist erhaben, aber auf eine schreckliche Art“ (Immanuel Kant) – Ablenkungen globaler Gleichzeitigkeit sind einen Mausklick oder Fingerwisch weit entfernt, und Medien, Hochschulen, Meister verschiedener Künste fordern frühe Erfolge in schneller Abfolge.
Die Fähigkeit junger Menschen, sich über einen längeren Zeitraum auf nur einen Gegenstand, eine Tätigkeit zu konzentrieren, ist in den letzten Jahren nachweislich rapide gesunken. Vor wenigen Monaten machte eine Studie von sich reden, deren Ergebnis es war, dass Menschen mittlerweile eine um eine Sekunde geringere Aufmerksamkeitsspanne als Goldfische haben. Als Ursache werden primär der Medienkonsum und das damit oftmals einhergehenden Multitasking genannt. Erwachsene Probanden der von Microsoft durchgeführten Studie benutzen digitale Medien durchschnittlich 11 Stunden täglich, 18–24-Jährige gar 14. Kurze Film-Trailer, zeitlich normierte Werbespots und die sehr überschaubaren Dauern von Pop-Songs tun ein Übriges. In weiteren Studien geben drei Viertel der Probanden an, täglich mehrere Medien gleichzeitig zu verwenden, beispielsweise Fernseher und Smartphones.
Dabei scheint mir gerade die Klassische Musik die geeignete Kunstform, dem Multitasking und Multiscreening entgegenzuwirken und die Aufmerksamkeitsspanne zu erhöhen, sowohl durch Hören von Musik als durch das Erlernen eines Instruments, als Kulturschaffender oder begeisterter Rezipient. Viele Intellektuelle klassifizieren Musik als die anspruchsvollste und schönste Kunstform, als diejenige jedenfalls, die den größten Einfluss auf Emotion hat. Dabei „fesselt“ das Live-Erlebnis Klassischer Musik die Zuhörer für eine längere Zeitspanne, zwingt zum Zuhören, das nicht abstellbar ist. An einem Werk der Bildenden Kunst kann ich bei Nichtgefallen vorbeigehen, mich einem anderen zuwenden. Musik hingegen ist eine Kunstform, die in der Zeit geschieht – ja, sie gestaltet Zeit, macht sie vergessen –, und genau die Konzentration auf einen Gegenstand für einen längeren Zeitraum, unterstützt durch die Architektur von Konzert- und Kammermusiksälen sowie Theatern, hilft, zurück zu einer kontemplativen Haltung zu finden, das Unterbewusste zugänglicher, den Geist beweglicher zu machen und die Aufmerksamkeitsspanne erweitern.
Ob versunken in großer Malerei, beim Erfühlen von Erhabenheit, wenn wir eins werden mit großer Architektur, gefrorener Musik (Schopenhauer), ob zeitvergessen im Theater oder – überirdisch – beim Hören des 2. Satzes des Schubert’schen Streichquintetts. Große Kunst ist ein allvergessenes „Jetzt“. „Du brauchst dein Zimmer nicht zu verlassen, bleib einfach an deinem Tisch sitzen und horche. Du brauchst nicht einmal zu horchen, warte einfach. Du brauchst nicht einmal zu warten, werde einfach still und die Welt wird sich offenbaren, um demaskiert zu werden; sie hat keine andere Wahl. Sie wird sich in Ekstase vor deinen Füssen wälzen.“