Caritas abundatLiedsonate für Violine solo

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Eine Solo-Sonate für die Violine steht zwingend in der Tradition der gigantischen Werke Johann Sebastian Bachs für diese Besetzung, und so ist auch die vorliegende umfangreiche Sonate, Caritas abundat, äußerst polyphon gearbeitet und stellt technisch wie musikalisch hohe Anforderungen an den Interpreten.

Der Untertitel Liedsonate deutet auf drei Lieder hin, die den einzelnen Sätzen zugrunde liegen, ein mittelalterlicher Gesang, ein Choral und ein Volkslied.

Der erste Satz der Sonate verarbeitet den Gesang Caritas abundat in omnia der Hildegard von Bingen. Choralpassagen wechseln mit freien, hochvirtuose Abschnitte mit getragenen, exaltierte mit kontemplativen. Der Kopfsatz mündet in einen doppelten polyphonen Höhepunkt: Zunächst erklingt eine Chaconne, deren Variationen ein großes Spektrum an Spieltechniken und Stimmungen aufweisen. Ihr folgt eine Fuge, das Chaconne-Thema in abgewandelter Form wieder aufgreifend.

Der Choral Wie schön leuchtet der Morgenstern bildet die Grundlage für den zweiten Satz, ein kontemplativer, hochemotionaler Gesang mit omnipräsenten Bezügen zum cantus firmus.

Der Finalsatz schließlich verarbeitet einer wilden Einleitung folgend das Volkslied Kein schöner Land in dieser Zeit in Form eines weiteren umfangreichen, sehr frei gehaltenen Variationszyklus. Wie die gesamte Sonate durch ein engmaschiges Motivgeflecht durchzogen ist, nimmt besonders dieser Satz auf alles Vorangegangene Bezug, Motive sämtlicher Sätze werden kombiniert und neu in Beziehung zueinander gesetzt. Schließlich endet der Satz mit einer kurzen, in das Volkslied eingestreuten Erinnerung an das Lied Hildegards.

Zu den verwendeten Gesängen

Die Komponistin Hildegard wandelt die Vorlage Gregorianischer Choral in einen ihr sehr eigenen Liedstil um. Ihre Melodien sind überaus lautmalerisch, phasenweise virtuos und umfassen häufig einen ungewohnt großen Ambitus.

Die Tradition des deutschen Kirchenlieds fußt auf den wichtigen Beiträgen Thomas Müntzers (1489–1525) und Martin Luthers (1483–1546). Dabei stellt der Choral Wie schön leuchtet der Morgenstern, in Text und Melodie verfasst von Philipp Nicolai, eine der schönsten und bekanntesten Schöpfungen dar. In der (nicht chronologisch angelegten) Zählung der bach’schen Werke ist die gleichnamige Kantate über diesen Choral als Nummer 1 angeführt.

Kein schöner Land in dieser Zeit, 1840 von Anton Wilhelm von Zuccalmaglio (1803–1869) unter dem Titel Abendlied veröffentlicht, schließlich ist das wohl beliebteste Volkslied und in seiner Schlichtheit von einer herzergreifenden Melancholie.

So repräsentieren die gewählten Lieder drei bedeutsame Stilepochen und überspannen den großen Zeitraum vom Mittelalter bis zur Romantik.

Die Komponistin Hildegard von Bingen

Hildegard von Bingen im Ordensgewand und mit Heiligenschein als Teil eines Kirchenfensters. Sie beschreibt ein Blatt Notenpapier mit einer Feder.
Hildegard von Bingen als Komponistin

Hildegard von Bingen, 1098–1179, Kirchenlehrerin und Heilige, gilt als eine der bekanntesten und einflussreichsten Frauen des Mittelalters. Die Rezeption Ihrer Werke hat in den letzten Jahren und wenigen Jahrzehnten eine große Renaissance erlebt. Zu Ihren Schriften gehören Beiträge zur Naturmedizin, Kosmologie, Biologie, Ethik und Theologie.

Mit den Symphonia armonie celestium revelationum, denen die Antiphon Caritas abundat entnommen ist, liegt eine 77 liturgische Gesänge umfassende Liedersammlung vor. Ferner ist das Mysterienspiel Ordo virtutum überliefert, ein halbszenischer Wechselgesang, der durchaus als Vorform von Oratorium und Oper verstanden werden kann.